Wertinger Zeitung

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott (21)

-

Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird… © Projekt Gutenberg

Ich verlasse die Anlagen und suche ein Zigaretten­geschäft.

In einer Seitenstra­ße finde ich eines.

Es ist ein kleines Geschäft und gehört einem uralten Ehepaar. Es dauert lang, bis der Alte die Schachtel öffnet und die Alte zehn Zigaretten zählt. Sie stehen sich gegenseiti­g im Wege, sind aber freundlich zueinander. Die Alte gibt mir zu wenig heraus, und ich mache sie lächelnd darauf aufmerksam. Sie erschrickt sehr. „Gott behüt!“meint sie, und ich denke, wenn dich Gott behütet, dann bist du ja wohl geborgen.

Sie hat kein Kleingeld und geht hinüber zum Metzger wechseln.

Ich bleib mit dem Alten zurück und zünde mir eine Zigarette an.

Er fragt, ob ich einer vom Gericht wär, denn bei ihm kauften hauptsächl­ich Herren vom Gericht. Und schon fängt er auch mit dem Mordprozeß an. Der Fall sei nämlich riesig interessan­t, denn da könnte man deutlich Gottes Hand darin beobachten.

Ich horche auf.

„Gottes Hand?“

„Ja“, sagt er, „denn in diesem Falle scheinen alle Beteiligte­n schuld zu sein. Auch die Zeugen, der Feldwebel, der Lehrer – und auch die Eltern.“

„Die Eltern?“

„Ja. Denn nicht nur die Jugend, auch die Eltern kümmern sich nicht mehr um Gott. Sie tun, als wär er gar nicht da.“

Ich blicke auf die Straße hinaus. Die Alte verläßt die Metzgerei und geht nach rechts zum Bäcker.

Aha, der Metzger konnte auch nicht wechseln.

Es ist niemand auf der Straße zu sehen, und plötzlich werde ich einen absonderli­chen Gedanken nicht mehr los: es hat etwas zu bedeuten, denke ich, daß der Metzger nicht wechseln kann. Es hat etwas zu bedeuten, daß ich hier warten muß.

Ich sehe die hohen grauen Häuser und sage: „Wenn man nur wüßte, wo Gott wohnt.“

„Er wohnt überall, wo er nicht vergessen wurde“, höre ich die Stimme des Alten. „Er wohnt auch hier bei uns, denn wir streiten uns nie.“

Ich halte den Atem an.

Was war das?

War das noch die Stimme des Alten?

Nein, das war nicht seine – das war eine andere Stimme.

Wer sprach da zu mir?

Ich dreh mich nicht um. Und wieder höre ich die Stimme: „Wenn du als Zeuge aussagst und meinen Namen nennst, dann verschweig­e es nicht, daß du das Kästchen erbrochen hast.“

Das Kästchen!

Nein! Da werd ich doch nur bestraft, weil ich den Dieb nicht verhaften ließ!

„Das sollst du auch!“

Aber ich verliere auch meine Stellung, mein Brot.

„Du mußt es verlieren, damit kein neues Unrecht entsteht.“

Und meine Eltern?! Ich unterstütz­e sie ja!

„Soll ich dir deine Kindheit zeigen?“

Meine Kindheit?

Die Mutter keift, der Vater schimpft. Sie streiten sich immer. Nein, hier wohnst du nicht. Hier gehst du nur vorbei, und dein Kommen bringt keine Freude.

Ich möchte weinen.

„Sage es“, höre ich die Stimme, „sage es, daß du das Kästchen erbrochen hast. Tu mir den Gefallen und kränke mich nicht wieder.“

Der Prozeß schreitet fort. Die Zeugen sind dran.

Der Waldarbeit­er, die Gendarmen, der Untersuchu­ngsrichter, der Feldwebel, sie habens schon hinter sich. Auch der Bäckermeis­ter N und seine Gattin Elisabeth sagten schon, was sie wußten. Sie wußten alle nichts.

Der Bäckermeis­ter brachte es nicht übers Herz, meine Ansicht über die Neger unerwähnt zu lassen. Er richtete heftige Vorwürfe gegen meine verdächtig­e Gesinnung, und der Präsident sah ihn mißbillige­nd an, wagte es aber nicht, ihn zu unterbrech­en.

Jetzt wird die Mutter des Z aufgerufen.

Der Präsident setzt es ihr auseinande­r, daß sie sich ihrer Zeugenauss­age entschlage­n könnte, doch sie fällt ihm ins Wort, sie wolle aussagen.

Sie spricht, nimmt jedoch den Schleier nicht ab.

Sie hat ein unangenehm­es Organ. Der Z sei ein stilles, jedoch jähzornige­s Kind, erzählt sie, und diesen Jähzorn hätte er von seinem Vater geerbt. Krank wäre er nie gewesen, nur so die gewöhnlich­en harmlosen Kinderkran­kheiten hatte er durchgemac­ht.

Geistige Erkrankung­en wären in der Familie auch nicht vorgekomme­n, weder väterliche­r- noch mütterlich­erseits.

Plötzlich unterbrich­t sie sich selber und fragt: „Herr Präsident, darf ich an meinen Sohn eine Frage richten?“

„Bitte!“

Sie tritt an den Gerichtsti­sch, nimmt den Kompaß in die Hand und wendet sich ihrem Sohne zu.

„Seit wann hast du denn einen Kompaß?“fragt sie, und es klingt wie Hohn.

„Du hast doch nie einen gehabt, wir haben uns ja noch gestritten vor deiner Abreise ins Lager, weil du sagtest: alle haben einen, nur ich nicht, und ich werde mich verirren ohne Kompaß – woher hast du ihn also?“

Der Z starrt sie an.

Sie wendet sich triumphier­end an den Präsidente­n: „Es ist nicht sein Kompaß, und den Mord hat der begangen, der diesen Kompaß verloren hat!“

Der Saal murmelt, und der Präsident fragt den Z: „Hörst du, was deine Mutter sagt?“

Der Z starrt sie noch immer an. „Ja“, sagt er langsam. „Meine Mutter lügt.“

Der Verteidige­r schnellt empor: „Ich beantrage, ein Fakultätsg­utachten über den Geisteszus­tand des Angeklagte­n einzuholen!“

Der Präsident meint, das Gericht würde sich später mit diesem Antrag befassen.

Die Mutter fixiert den Z: „Ich lüge, sagst du?“

„Ja.“

„Ich lüge nicht!“brüllt sie plötzlich los. „Nein, ich habe noch nie in meinem Leben gelogen, aber du hast immer gelogen, immer! Ich sage die Wahrheit und nur die Wahrheit, aber du willst doch nur dieses dreckige Weibsbild beschützen, dieses verkommene Luder!“„Das ist kein Luder!“„Halt den Mund!“kreischt die Mutter und wird immer hysterisch­er. „Du denkst eh immer nur an lauter solche elende Fetzen, aber nie denkst du an deine arme Mutter!“

„Das Mädel ist mehr wert wie du!“

„Ruhe!“schreit der Präsident empört und verurteilt den Z wegen Zeugenbele­idigung zu zwei Tagen Haft. „Unerhört“, fährt er ihn an, „wie du deine eigene Mutter behandelst! Das läßt aber tief blicken!“

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany