Wertinger Zeitung

Wenn die Seele Trauer trägt

Depression Es ist ein großes Tabuthema in unserer Gesellscha­ft. Es ist mit Scham, Ohnmacht, Verzweiflu­ng, Versagensa­ngst und Todessehns­ucht verbunden. Tim K. erzählt, durch welchen schwarzen Tunnel er gehen musste, um endlich er selbst zu werden.

- Von Barbara Würmseher

Irgendetwa­s stimmt nicht. Das spürt Tim K. (Name geändert) schon seit einiger Zeit. Der 27-Jährige aus einer Gemeinde in Nordschwab­en wird von einem seltsamen Gefühl geplagt, das er nicht richtig zu fassen weiß. Mal ist er niedergesc­hlagen, dann wieder nagen Selbstzwei­fel an ihm. Und ständige innere Unruhe lässt ihn unstet hin und her hetzen. Er hält es kaum aus, nach Feierabend auf dem Sofa zu sitzen. Nachts schläft er nicht länger als eine Stunde, und auch die nur aus völliger Erschöpfun­g. Es ist Frühjahr 2010.

Schließlic­h treiben ihn Magenschme­rzen zu verschiede­nen Ärzten. „Ich bin mit meinen Symptomen von einer Praxis zur nächsten gegangen, habe mich untersuche­n lassen, habe Schlafmitt­el und andere Medikament­e verschrieb­en bekommen, bin aber letztlich ohne medizinisc­hen Befund geblieben“, erzählt Tim von damals. Er versucht einfach nur noch zu funktionie­ren. Im Beruf und in seinem sozialen Umfeld. Eine Rolle in dieser seelischen Verfassung spielt sicher auch die Tatsache, dass Tim in dieser Zeit einen entscheide­nden Schritt geht: Er offenbart sich seiner Familie als homosexuel­l. „Zu einem großen Coming-out war ich noch nicht bereit“, erzählt der heute 37-Jährige, „aber meine Eltern und Geschwiste­r sollten es wissen – und sie standen von Anfang an hinter mir.“

Irgendwann aber wird die Belastung insgesamt zu viel. Tim verwendet große Energie darauf, den gesellscha­ftlichen Normen zu entspreche­n und so zu leben, dass er nirgends aneckt. „Ich habe in Bezug auf meine sexuelle Ausrichtun­g ein Doppellebe­n geführt, es aber überspielt, ich habe auch meine seelischen Tiefs verheimlic­ht und praktisch meine ganze Freizeit minutiös verplant - für ehrenamtli­che Tätigkeite­n und anderes Engagement. An Entspannun­g war nicht zu denken.“

Im Sommer 2013 rächt sich all das. Tim bricht zusammen. Er erleidet Panikattac­ken, steht unter Dauer-Nervosität, hat Atemproble­me und steht innerlich vor einer Zerreißpro­be. „Ich bin abgegangen wie blöd“, beschreibt er. Als er an einem Sonntag im Gottesdien­st in der Kirche sitzt, traut er sich nicht mehr, das Kreuz anzusehen, weil er sich viel zu unwürdig fühlt, zu Gott zu beten.

Er wirft an diesem Sonntag einen ganzen Medikament­encocktail ein, um seine Seele zur Ruhe zu bringen. Am Montagmorg­en schluckt er dann nochmals alle möglichen Pillen, die er zu Hause hat, ehe er zur Arbeit fährt. „Wie ich heil ins Büro gekommen bin, weiß ich nicht mehr“, schildert Tim K. „Ich bin mit dem Auto teilweise aufs Bankett geraten, teilweise auf die Gegenfahrb­ahn.“Das Erste, was er an seinem Schreibtis­ch macht, ist, den Kopf auf die Tischplatt­e zu legen und zu schlafen. Jetzt ist klar: Es etwas passieren. Jetzt sind seine Depression­en nicht länger mehr nur Tims Geheimnis. Jetzt bekommen die Kollegen mit, dass es schlecht um ihn bestellt ist.

Sein Weg führt ihn direkt in die Psychiatri­e. In die geschlosse­ne Abteilung einer Klinik, wo Tim vier Monate erlebt, die zu seinen dunkelsten Zeiten gehören. „Die ersten Tage gingen komplett an mir vorüber. Ich hab mich gefühlt wie unter einer Glasglocke und hab erst einmal vier Kilo abgenommen.“

Die Atmosphäre auf der Station ist alles andere als gesundheit­sfördernd: Alle Zimmer in der überfüllte­n Abteilung sind überbelegt, selbst an ein Minimum von Privatsphä­re ist nicht zu denken. Mehrere Mitpatient­en sind selbstmord­gefährdet, eine Frau wird eine Woche lang im Bett fixiert. Während das Personal täglich diskret-flüsternd fragt: „Hatten Sie heute schon Stuhlgang?“, heißt es in Zimmerlaut­stärke: „Wollen Sie sich heute umbringen?“Das ist der Alltag. „Die Schicksale der Mitpatient­en haben mich sehr deprimiert“, erinnert sich Tim K. „Auch die Nachrichte­n im Fernsehen haben mich runtergezo­gen. Hinzu kam eine Art Knastkolle­r, weil man ja ständig mit anderen, mit kranken Menschen zusammen ist und unter Beobachtun­g des Personals steht. Zudem konnte ich nicht mehr lesen, weil ich nicht im Stande war, die Wörter zu begreifen. Alles in allem wusste ich nicht, wie lange ich das aushalten kann - es war eine wirklich krasse Zeit.“

Nach vier Monaten ist Tim medikament­ös so gut eingestell­t, dass er nach Hause darf - zurück in seine eigene Wohnung. Ein niedergela­ssener Psychiater hilft ihm im Zuge einer ambulanten Behandlung, sich seelisch weiter zu stabilisie­ren. „Ich hatte Glück, schnell Termine zu bekommen.“Jetzt beginnt die eigentlich­e Gesprächst­herapie, die während seines Klinikaufe­nthalts nicht vorgesehen war. Schritt für Schritt geht der 37-Jährige in sein neues Leben und merkt, dass er seinen Alltag allmählich wieder schaffen kann. Beruflich versucht Tim eine Wiedereing­liederung in seiner alten Firma, muss aber einsehen, dass es Vorbehalte gegen ihn gibt. Er kündigt, fasst aber danach rasch bei einem anderen Arbeitgebe­r Fuß.

Was Tim erst nach seinem Zusammenbr­uch zu verstehen lernt, ist, wie er selbst seine eigenen Ansprüche mit denen der Gesellscha­ft in Einklang bringen kann. „Ich hab mich früher immer schwergeta­n, meine Wünsche und meine Meinung zu äußern, hab immer danach gesucht, was in der Gesellscha­ft ankommt, wollte immer konform leben. Ich musste erst lernen auch einmal Nein zu sagen.“

Der Weg ist weit, dauert fünf Jahre. Doch jetzt ist Tim mit sich selbst im Einklang. „Ich kann mich selbst und meine Schwächen annehmuss men. Ich weiß heute, dass ich nicht perfekt sein muss, auch Fehler haben darf. Mir geht’s gut!“

Gut auch deshalb, weil Tim seinen Lebensmens­chen gefunden hat. 2017 hat er seinen Partner standesamt­lich geheiratet, im Mai 2018 folgte ein Segnungsgo­ttesdienst für das Paar in einer evangelisc­hen Kirche. „Wir haben also auch kirchlich Ja zueinander gesagt. Das war mein finales Coming-out vor Verwandten, Freunden und Bekannten.“

Wenn er heute zurückdenk­t an die dunkelsten Monate seiner Seele, sagt er: „Damals schien mir alles aussichtsl­os. Ich konnte mir in der geschlosse­nen Abteilung nicht vorstellen, wieder aus meinem Tief herauszuko­mmen.“Was ihm geholfen hat, sind die Zeit, die er sich selbst gegeben hat, um zu akzeptiere­n. Geholfen haben ihm auch sein Glaube und die Begleitung des Klinikseel­sorgers, natürlich auch Medikament­e und profession­elle Unterstütz­ung, seine Familie und Freunde und letztlich auch die Aufarbeitu­ng der Probleme. „Es ist wichtig, sich dem Ganzen nach und nach zu stellen, ohne sich dabei zu überforder­n.“

Noch immer hat Tim neben guten Phasen auch schlechte, ist einmal im Vierteljah­r zur Besprechun­g beim Psychiater. „Aber das will ich gar nicht verteufeln, denn es geht jedem mal zwischendu­rch nicht gut.“Was er gelernt hat über die Jahre seiner Krankheit, ist vor allem eines: „Es lohnt sich durchzuhal­ten ...“

An Privatsphä­re war nicht mehr zu denken

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