Nach der Bluttat sagt er: „War nur Spaß“
Justiz Zum Prozessauftakt kommen der Angeklagte und sein Opfer zu Wort. Doch nur einer kann etwas über die Messerattacke in Dürrlauingen sagen
Der erste Verhandlungstag im Prozess wegen versuchten Mordes gegen einen 18-Jährigen vor dem Landgericht Memmingen war ein besonderer. Denn zum ersten Mal seit der Bluttat in Dürrlauingen vom 2. Juni vergangenen Jahres trafen der Angeklagte und sein Opfer wieder aufeinander. Wie berichtet, wirft die Staatsanwaltschaft dem 18-Jährigen vor, einem 16-jährigen Bekannten hinterrücks ein Messer in den Nacken gerammt zu haben.
Man sei davon überzeugt, so Staatsanwalt Thomas Hörmann beim Verlesen der Anklageschrift, dass der junge Mann die Absicht hatte, den anderen zu töten. Die Anklage nennt als Mordmerkmal, das rechtlich für den Vorwurf des (versuchten) Mordes nötig ist, die Heimtücke. Der Angeklagte habe aktiv versucht, sein Opfer dazu zu bringen, ihm den Rücken zuzudrehen und dann zugestochen.
Detailliert geht die Große Jugendkammer um den Vorsitzenden Richter Christian Liebhart die Ereignisse jenes Sommertages durch. Auf dem Zeugenstuhl sitzt ein groß gewachsener junger Mann mit jugendlichem Gesicht. Er lässt sich vom Richter duzen und gibt sich sichtlich Mühe, den Tag so genau wie möglich zu rekonstruieren. An jenem Sonntag war er früher als üblich vom Wochenendbesuch bei seinen Eltern zurück nach Dürrlauingen gefahren. Es habe mal wieder Streit gegeben, sagt der 16-Jährige, der aus Oberbayern stammt.
Er nimmt einen falschen Zug, der nicht am Bahnhof in Mindelaltheim hält, und muss deshalb von Burgau aus die rund acht Kilometer bis zum St. Nikolaus-Heim zu Fuß gehen, wo er in einer Wohngruppe lebt. Es ist ein heißer Sonntagnachmittag, der 16-Jährige macht mehrere Pausen auf dem Fußmarsch. Während einer dieser Pausen zwischen Mindelaltheim und Dürrlauingen kommt der Angeklagte aus Richtung Burgau mit dem Fahrrad angefahren. Die beiden kennen sich aus dem „Niki-Heim“, wie der Zeuge es nennt. Einige Tage zuvor hatte es Streit gegeben zwischen den beiden. Der Angeklagte habe einen Nintendo DS, eine Spielekonsole, nicht zurückgegeben, den der 16-Jährige ihm als Pfand für Zigarettenpapier überlassen hatte.
Doch unter den Bäumen am Rande der Kreisstraße GZ 11 unterhalten sie sich normal, rauchen zusammen. Dann lockt der 18-Jährige den Jüngeren ein Stück von der Straße weg. An einem Zaun, der das dortige Klärwerk umgibt, hängt ein Zahlenschloss, das der 16-Jährige knacken soll. „Ich habe Nein gesagt. Da hat er in seinem Rucksack gegriffen. Als ich gefragt habe, was er da drin hat, meinte er, es wäre Verpflegung.“Tatsächlich befindet sich in dem Rucksack ein rund 30 Zentimeter langes Küchenmesser aus der Werkstatt des Förderungswerks. Als der 16-Jährige sich wieder wegdreht, sticht der Angeklagte zu. „Ich habe ein Druck gespürt und ein Knacken gehört. Da habe ich gefragt, was das ist. Und er meinte: ,War nur Spaß, nur Spaß.’“
Während der Jugendliche zu Boden sinkt, steigt der 18-Jährige auf sein Fahrrad und fährt davon. Dass sein Opfer sich unter Schmerzen zur Straße schleppt, den Notruf wählt und versucht, Autos anzuhalten, bekommt er nicht mit. Überhaupt habe er an den Zeitraum der Tat keinerlei Erinnerung, sagt der Angeklagte vor Gericht. „Meine Erinnerung setzt erst wieder ein, als ich in Günzburg in der Zelle war.“Die Polizei hatte ihn kurz nach der Tat festgenommen und ins Bezirkskrankenhaus gebracht.
Zum Prozessauftakt wird klar, dass der Angeklagte unter massiven psychischen Problemen leidet – und zwar schon seit Jahren. Von Depressionen ist da die Rede, von Angststörungen und Autismus, von Selbstverletzung und Suizidversuchen. Auch habe er Stimmen gehört, die ihm befahlen, sich oder anderen etwas anzutun. Ob er zum Zeitpunkt der Tat überhaupt schuldfähig war, wird im Lauf des Prozesses ein Gutachter prüfen. Bei der Tat sei er alkoholisiert gewesen, sagt der Angeklagte. Er habe in Burgau in einer Eisdiele drei Gläser Wodka getrunken. Da setze seine Erinnerung aus.
Als Nächstes werden Zeugen vom Tattag und aus dem Umfeld des Angeklagten und seines Opfers aussagen. Der 16-Jährige, der vor Gericht auch Nebenkläger ist, will nach dem Termin nur noch nach Hause. Eine Entschuldigung vom Angeklagten will er nicht hören. „Das ist nicht entschuldbar, was er getan hat.“Die ganze Verhandlung über sehen sie sich kein einziges Mal in die Augen.