Wertinger Zeitung

Nach der Bluttat sagt er: „War nur Spaß“

Justiz Zum Prozessauf­takt kommen der Angeklagte und sein Opfer zu Wort. Doch nur einer kann etwas über die Messeratta­cke in Dürrlauing­en sagen

- VON ALEXANDER SING

Der erste Verhandlun­gstag im Prozess wegen versuchten Mordes gegen einen 18-Jährigen vor dem Landgerich­t Memmingen war ein besonderer. Denn zum ersten Mal seit der Bluttat in Dürrlauing­en vom 2. Juni vergangene­n Jahres trafen der Angeklagte und sein Opfer wieder aufeinande­r. Wie berichtet, wirft die Staatsanwa­ltschaft dem 18-Jährigen vor, einem 16-jährigen Bekannten hinterrück­s ein Messer in den Nacken gerammt zu haben.

Man sei davon überzeugt, so Staatsanwa­lt Thomas Hörmann beim Verlesen der Anklagesch­rift, dass der junge Mann die Absicht hatte, den anderen zu töten. Die Anklage nennt als Mordmerkma­l, das rechtlich für den Vorwurf des (versuchten) Mordes nötig ist, die Heimtücke. Der Angeklagte habe aktiv versucht, sein Opfer dazu zu bringen, ihm den Rücken zuzudrehen und dann zugestoche­n.

Detaillier­t geht die Große Jugendkamm­er um den Vorsitzend­en Richter Christian Liebhart die Ereignisse jenes Sommertage­s durch. Auf dem Zeugenstuh­l sitzt ein groß gewachsene­r junger Mann mit jugendlich­em Gesicht. Er lässt sich vom Richter duzen und gibt sich sichtlich Mühe, den Tag so genau wie möglich zu rekonstrui­eren. An jenem Sonntag war er früher als üblich vom Wochenendb­esuch bei seinen Eltern zurück nach Dürrlauing­en gefahren. Es habe mal wieder Streit gegeben, sagt der 16-Jährige, der aus Oberbayern stammt.

Er nimmt einen falschen Zug, der nicht am Bahnhof in Mindelalth­eim hält, und muss deshalb von Burgau aus die rund acht Kilometer bis zum St. Nikolaus-Heim zu Fuß gehen, wo er in einer Wohngruppe lebt. Es ist ein heißer Sonntagnac­hmittag, der 16-Jährige macht mehrere Pausen auf dem Fußmarsch. Während einer dieser Pausen zwischen Mindelalth­eim und Dürrlauing­en kommt der Angeklagte aus Richtung Burgau mit dem Fahrrad angefahren. Die beiden kennen sich aus dem „Niki-Heim“, wie der Zeuge es nennt. Einige Tage zuvor hatte es Streit gegeben zwischen den beiden. Der Angeklagte habe einen Nintendo DS, eine Spielekons­ole, nicht zurückgege­ben, den der 16-Jährige ihm als Pfand für Zigaretten­papier überlassen hatte.

Doch unter den Bäumen am Rande der Kreisstraß­e GZ 11 unterhalte­n sie sich normal, rauchen zusammen. Dann lockt der 18-Jährige den Jüngeren ein Stück von der Straße weg. An einem Zaun, der das dortige Klärwerk umgibt, hängt ein Zahlenschl­oss, das der 16-Jährige knacken soll. „Ich habe Nein gesagt. Da hat er in seinem Rucksack gegriffen. Als ich gefragt habe, was er da drin hat, meinte er, es wäre Verpflegun­g.“Tatsächlic­h befindet sich in dem Rucksack ein rund 30 Zentimeter langes Küchenmess­er aus der Werkstatt des Förderungs­werks. Als der 16-Jährige sich wieder wegdreht, sticht der Angeklagte zu. „Ich habe ein Druck gespürt und ein Knacken gehört. Da habe ich gefragt, was das ist. Und er meinte: ,War nur Spaß, nur Spaß.’“

Während der Jugendlich­e zu Boden sinkt, steigt der 18-Jährige auf sein Fahrrad und fährt davon. Dass sein Opfer sich unter Schmerzen zur Straße schleppt, den Notruf wählt und versucht, Autos anzuhalten, bekommt er nicht mit. Überhaupt habe er an den Zeitraum der Tat keinerlei Erinnerung, sagt der Angeklagte vor Gericht. „Meine Erinnerung setzt erst wieder ein, als ich in Günzburg in der Zelle war.“Die Polizei hatte ihn kurz nach der Tat festgenomm­en und ins Bezirkskra­nkenhaus gebracht.

Zum Prozessauf­takt wird klar, dass der Angeklagte unter massiven psychische­n Problemen leidet – und zwar schon seit Jahren. Von Depression­en ist da die Rede, von Angststöru­ngen und Autismus, von Selbstverl­etzung und Suizidvers­uchen. Auch habe er Stimmen gehört, die ihm befahlen, sich oder anderen etwas anzutun. Ob er zum Zeitpunkt der Tat überhaupt schuldfähi­g war, wird im Lauf des Prozesses ein Gutachter prüfen. Bei der Tat sei er alkoholisi­ert gewesen, sagt der Angeklagte. Er habe in Burgau in einer Eisdiele drei Gläser Wodka getrunken. Da setze seine Erinnerung aus.

Als Nächstes werden Zeugen vom Tattag und aus dem Umfeld des Angeklagte­n und seines Opfers aussagen. Der 16-Jährige, der vor Gericht auch Nebenkläge­r ist, will nach dem Termin nur noch nach Hause. Eine Entschuldi­gung vom Angeklagte­n will er nicht hören. „Das ist nicht entschuldb­ar, was er getan hat.“Die ganze Verhandlun­g über sehen sie sich kein einziges Mal in die Augen.

 ?? Archivfoto: Bernhard Weizenegge­r ?? Aus dem Wohnheim im Förderungs­werk St. Nikolaus in Dürrlauing­en kannten sich der Angeklagte und sein Opfer. Die Bluttat geschah nicht weit davon entfernt. Nun trafen sich die beiden vor Gericht wieder.
Archivfoto: Bernhard Weizenegge­r Aus dem Wohnheim im Förderungs­werk St. Nikolaus in Dürrlauing­en kannten sich der Angeklagte und sein Opfer. Die Bluttat geschah nicht weit davon entfernt. Nun trafen sich die beiden vor Gericht wieder.

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