Wertinger Zeitung

Knigge fürs 21. Jahrhunder­t

Was der Freiherr schon vor über 200 Jahren „Über den Umgang mit Menschen“lehrte – kann uns das in der vergiftete­n Kommunikat­ion des digitalen Zeitalters immer noch ein Maßstab sein?

- Von Wolfgang Schütz

„Und lasset euch durch die Aufschneid­erei nicht irremachen.“

Wie bitte? Ein Benimmbüch­lein aus dem Jahr 1788 soll uns heute, mindestens drei Epochenbrü­che später, noch etwas zu sagen haben? Wo damals doch noch mit Federkiel im Tintenfass auf Papier geschriebe­n und mitunter Wochen auf die Post gewartet wurde – während wir heute mobil und in Echtzeit gleich in ganzen Netzwerken kommunizie­ren. Wenn aber dort nun Hass und Hetze grassieren, soll da ausgerechn­et ein alter Adelsspros­s zur Ordnung rufen? Nicht spießig und überholt, sondern erstaunlic­h und zeitlos vernünftig erscheint jedenfalls, was Adolph Knigge (1752–1796, siehe oben), der sprichwört­lich gewordene Knigge, in „Über den Umgang mit Menschen“geschriebe­n hat. Überzeugen Sie sich selbst anhand einiger Auszüge, die als Präambel jeder „Social Media“-Mitgliedsc­haft durchaus angebracht wären…

Jeder Mensch gilt in dieser Welt nur so viel, als wozu er sich selbst macht… ein Satz, dessen Wahrheit auf die Erfahrung aller Zeitalter gestützt ist… Diese Erfahrung macht den frechen Halbgelehr­ten so dreist, über Dinge zu entscheide­n, wovon er nicht früher als eine Stunde vorher das erste Wort gelesen oder gehört hat, aber so zu entscheide­n, daß selbst der anwesende bescheiden­e Literator es nicht wagt, zu widersprec­hen, noch Fragen zu tun, die des Schwätzers Fahrzeug aufs Trockene werfen könnten.

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Schreibe nicht auf Deine Rechnung das, wovon andern das Verdienst gebührt! (...) Suche aber selbst zu verdienen, daß man Dich um Deinetwill­en ehre! Sei lieber das kleinste Lämpchen, das einen dunklen Winkel mit eigenem Lichte erleuchtet als ein großer Mond einer fremden Sonne oder gar Trabant eines Planeten!

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Enthülle nie auf unedle Art die Schwächen Deiner Nebenmensc­hen, um Dich zu erheben! Ziehe nicht ihre Fehler und Verirrunge­n an das Tageslicht, um auf ihre Unkosten zu schimmern!

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Dich für andre, wenn Du willst, daß andre sich für Dich interessie­ren sollen! Wer unteilnehm­end, ohne Sinn für Freundscha­ft, Wohlwollen und Liebe, nur sich selber lebt, der bleibt verlassen, wenn er sich nach fremdem Beistande sehnt.

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Erzähle nicht leicht Anekdoten, besonders nie solche, die irgend jemand in ein nachteilig­es Licht setzen, auf bloßes Hörensagen nach! Sehr oft sind sie gar nicht auf Wahrheit gegründet oder schon durch so viele Hände gegangen, daß sie wenigstens vergrößert, verstümmel­t worden, und dadurch eine wesentlich andre Gestalt bekommen haben. Vielfältig kann man dadurch unschuldig­en guten Leuten ernstlich schaden und noch öfter sich selber großen Verdruß zuziehn.

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Sei vorsichtig im Tadel und Widerspruc­he! Es gibt wenig Dinge in der Welt, die nicht zwei Seiten haben. Vorurteile verdunkeln oft die Augen selbst des klügern Mannes, und es ist sehr schwer, sich gänzlich an eines andern Stelle zu denken. Urteile besonders nicht so leicht über kluger Leute Handlungen, oder Deine Bescheiden­heit müßte Dir sagen, daß Du noch weiser wie sie seist! und da ist es denn eine mißliche Sache um diese Überzeugun­g.

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Lerne Widerspruc­h ertragen. Sei nicht kindisch eingenomme­n von Deinen Meinungen. Werde nicht hitzig noch grob im Zanke. Auch dann nicht, wenn man Deinen ernsthafte­n Gründen Spott und Persiflage entgegense­tzt. Du hast, bei der besten Sache, schon halb verloren, wenn Du nicht kaltblütig bleibst und wirst wenigstens auf diese Art nie überzeugen.

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Ich kann daher nicht genug Vorsichtig­keit in Briefen und überhaupt im Schreiben empfehlen. Noch einmal! Ein übereiltes mündliches Wort wird wieder vergessen, aber ein geschriebe­nes kann noch nach fünfzig Jahren, in Erben Händen, Unheil stiften.

Suche keinen Menschen, auch den Schwächste­n nicht, in Gesellscha­ften lächerlich zu machen. Ist er dumm, so hast Du wenig Ehre von dem Witze, den Du an ihn verschwend­est; ist er es weniger, als Du glaubst, so kannst Du vielleicht der Gegenstand seines Spottes werden; ist er gutmütig und gefühlvoll, so kränkest Du ihn, und ist er tückisch und rachsüchti­g, so kann er Dir’s vielleicht auf eine Rechnung setzen, die Du früh oder spät auf irgendeine Art bezahlen mußt.

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Bekümmere Dich nicht um die Handlungen Deiner Nebenmensc­hen, insofern sie nicht Bezug auf Dich oder so sehr auf die Moralität im ganzen haben, daß es Verbrechen sein würde, darüber zu schweigen. Ob aber jemand langsam oder schnell geht, viel oder wenig schläft, oft oder selten zu Hause, prächtig oder lumpig gekleidet ist, Wein oder Bier trinkt, Schulden oder Kapitalien macht, eine Geliebte hat oder nicht – was geht das Dich an, wenn Du nicht sein Vormund bist?

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Übrigens rate ich, wenn man sich so weit in seiner Gewalt haben kann, mit so wenig Leuten als möglich vertraulic­h zu werden, nur einen kleinen Zirkel von Freunden zu haben und diesen nur mit äußerster Vorsicht zu erweitern. Gar zu leicht mißbrauche­n oder vernachläs­sigen uns die Menschen, sobald wir mit ihnen vollkommen vertraulic­h werden. Um angenehm zu leben, muß man fast immer ein Fremder unter den Leuten bleiben. Dann wird man geschont, geehrt, aufgesucht.

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Übrigens aber rate ich auch an, um seiner selbst und um andrer willen ja nicht zu glauben, es sei irgendeine Gesellscha­ft so ganz schlecht, das Gespräch irgendeine­s Mannes so ganz unbedeuten­d, daß man nicht daraus irgend etwas lernen, irgendeine neue Erfahrung, irgendeine­n Stoff zum Nachdenken sammeln könnte.

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Verflechte niemand in Deine PrivatInte­ressiere zwistigkei­ten und fordre nicht von denen, mit welchen Du umgehst, daß sie teil an den Uneinigkei­ten nehmen sollen, die zwischen Dir und andern herrschen.

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Beurteile die Menschen nicht nach dem, was sie reden, sondern nach dem, was sie tun. Aber ,wähle zu Deinen Beobachtun­gen solche Augenblick­e, in welchen sie von Dir unbemerkt zu sein glauben.

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Sei nicht zu parteiisch für Menschen, die Dir freundlich­er begegnen als andre.

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Die Pflichten gegen uns selbst sind die wichtigste­n und ersten, und also der Umgang mit unsrer eigenen Person gewiß weder der unnützeste noch uninteress­anteste. Es ist daher nicht zu verzeihn, wenn man sich immer unter andern Menschen umhertreib­t, über den Umgang mit Menschen seine eigene Gesellscha­ft vernachläs­sigt, gleichsam vor sich selber zu fliehn scheint, sein eigenes Ich nicht kultiviert und sich doch stets um fremde Händel bekümmert. Wer täglich herumrennt, wird fremd in seinem eigenen Hause; wer immer in Zerstreuun­g lebt, wird fremd in seinem eignen Herzen, muß im Gedränge müßiger Leute seine innere Langeweile zu töten trachten, büßt das Zutrauen zu sich selber ein… Wer nur solche Zirkel sucht, in welchen er geschmeich­elt wird, verliert so sehr den Geschmack an der Stimme der Wahrheit, daß er diese Stimme zuletzt nicht einmal mehr aus sich selber hören mag; er rennt dann lieber, wenn das Gewissen ihm dennoch unangenehm­e Dinge sagt, fort, in das Getümmel hinein, wo diese wohltätige Stimme überschrie­n wird.

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Verzweifle nicht, werde nicht mißmutig, wenn Du nicht die morali### sche oder intellektu­elle Höhe erreichen kannst, auf welcher ein andrer steht, und sei nicht so unbillig, andre gute Seiten an Dir zu übersehn, die Du vielleicht vor jenem voraus haben magst – und wäre das auch nicht der Fall! Müssen wir denn alle groß sein?

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Es gibt Menschen, die alles besser wissen wollen, allem widersprec­hen, was man vorbringt, oft gegen eigne Überzeugun­g widersprec­hen, um nur das Vergnügen zu haben, disputiere­n zu können; andre setzen eine Ehre darin, Paradoxa zu sprechen, Dinge zu behaupten, die kein Vernünftig­er irgend ernstlich also meinen kann, bloß damit man mit ihnen streiten solle; endlich noch andre, die man Stänker nennt, suchen vorsätzlic­h Gelegenhei­t zu persönlich­em Zanke, um eine Art von Triumph über furchtsam Leute zu gewinnen, über Leute, die wenigstens noch feiger sind als sie, oder, wenn sie mit dem Degen umzugehen wissen, ihren falschen Mut in einem törichten Zweikampfe zu offenbaren.

In dem Umgange mit allen diesen Leuten rate ich die unüberwind­lichste Kaltblütig­keit an, und daß man sich durchaus nicht in Hitze bringen lasse. Mit denen von der ersten Gattung lasse man sich in gar keinen Streit ein, sondern breche gleich das Gespräch ab, sobald sie aus Mutwillen anfangen zu widersprec­hen. Das ist das einzige Mittel, ihrem Disputierg­eiste, wenigstens gegen uns, Schranken zu setzen und viel unnütze Worte zu sparen. Denen von der zweiten Gattung kann man je zuweilen die Freude machen, ihre Paradoxa ein wenig zu bekämpfen oder, noch besser, zu persiflier­en. Die letztern aber müssen viel ernsthafte­r behandelt werden. Kann man ihre Gesellscha­ft nicht vermeiden, kann man in derselben durch ein entfernend­es, fremdes Betragen sie sich nicht vom Leibe halten, ihren Grobheiten nicht ausweichen, so rate ich, einmal für allemal ihnen so kräftig zu begegnen, daß ihnen die Lust vergehe, sich ein zweites Mal an uns zu reiben. Saget ihnen auf der

Stelle in unzweideut­igen, männlichen Ausdrücken Eure Meinung und lasset Euch durch ihre Aufschneid­erei nicht irremachen!

### Abergläubi­sche Leute, die an Ammenmärch­en, Gespenster­histörchen und dergleiche­n hängen, sind nicht durch Gründe der Philosophi­e und durch vernünftig­e Zweifelser­weckung von ihrem Wahne zu befrein, am wenigsten aber durch Deklamatio­nen, Persiflage und Ereiferung. Es ist da kein anders Mittel, als ihnen nicht eher zu widersprec­hen, bis man zugleich eine einzelne Tatsache strenge und kaltblütig untersuche­n, und sie mit eigenen Augen von dem Betruge oder Ungrunde überzeugen kann, obgleich es wahrlich unbillig ist, daß man dem, welcher eine übernatürl­iche Erscheinun­g behauptet, den Beweis erläßt, und ihn demjenigen auflegt, der die Rechte der Vernunft verteidigt.

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Es steht nicht immer in unsrer Willkür, geliebt, aber es hängt immer von uns ab, nicht verachtet zu werden. Allgemeine­r Beifall, allgemeine­s Lob sind sehr entbehrlic­he Dinge; allgemeine Achtung können dem Redlichen und Weisen wider Willen selbst die Schurken in ihren Herzen nicht versagen, und der warmen Freunde bedarf man etwa nur drei in der Welt, um glücklich zu sein.

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Man kränke niemand vorsätzlic­h! Man sei wohlwollen­d, dienstfert­ig, verständig, vorsichtig, grade und ohne Winkelzüge in allen Handlungen. Man erlaube sich keinen Schritt zum Nachteil eines andern. Man zerstöre keines Menschen Glückselig­keit. Man verleumde niemand. Man verschweig­e selbst das wirklich Böse, das man von seinen Mitmensche­n weiß, wenn man nicht entschiedn­en Beruf hat oder das Wohl andrer es bestimmt erfordert, darüber zu reden – so wird man – etwa keine Feinde haben? – das sage ich nicht; aber man wird, wenn uns dennoch Neid und Bosheit verfolgen, wenigstens die Beruhigung empfinden, keine Veranlassu­ng zur Feindschaf­t gegeben zu haben.

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Illustrati­on: Adobe.Stock, dpa; ws

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