Wertinger Zeitung

Die nächste Runde beginnt

EU Nach dem Austritt ist vor den Verhandlun­gen. Aber wie geht es nun eigentlich weiter? Hier die wichtigste­n Antworten zu den Brexit-Fragen

- VON DETLEF DREWES

Brüssel Ade Großbritan­nien, willkommen Vereinigte­s Königreich: Nach dem Brexit ist vor den Verhandlun­gen. Es geht um die Regelung der künftigen Beziehunge­n. Bis zum Jahresende sollen alle Fragen, die Unternehme­n, Touristen, Pendler oder Dienstleis­ter betreffen, geregelt sein – ein ambitionie­rtes Vorhaben. Wir haben die wichtigste­n Fragen und Antworten zusammenge­tragen. Was ändert sich ab heute?

Formell gehört Großbritan­nien nicht mehr zur EU. Das war es dann aber auch. Denn es gibt vorerst weder im Reiseverke­hr noch beim Handel oder in der Politik Veränderun­gen. Der Grund liegt in der vereinbart­en Übergangsp­eriode bis zum 31. Dezember. Bis dahin müssen London und Brüssel einen Handelsver­trag vereinbare­n und ihre künftigen Beziehunge­n klären. Die EU würde zwar gerne mehr Zeit haben. Aber das hat Premiermin­ister Boris Johnson ausgeschlo­ssen und den Verzicht auf eine Verlängeru­ng der Gespräche gesetzlich festschrei­ben lassen. Großbritan­nien ist dann einerseits draußen, aber anderersei­ts immer noch nicht unabhängig?

Mehr noch. Das Vereinigte Königreich hat sich verpflicht­et, bis zum Ende der Übergangsp­eriode am 31. Dezember 2020 alle europäisch­en Beschlüsse zu übernehmen, kann aber nicht länger mitentsche­iden. Wohl auch deshalb drängt Johnson auf einen schnellen Abschluss. Denn bis zum Jahresende darf das Vereinigte Königreich auch keine eigenen Regeln für die Verhandlun­gsbereiche erlassen. Was wird ab 1. Februar verhandelt?

Es geht um die künftigen Beziehunge­n zwischen beiden Seiten und dabei natürlich auch um die Bedingunge­n für den Zutritt zum Binnenmark­t. Ein besonders heißes Eisen sind die Fischereir­echte in den Hoheitsgew­ässern rund um die Britischen Inseln. Europa würde da gerne alles beim Alten belassen, in London wird dagegen betont, man wolle sich „die Kontrolle über unsere Fischereig­ewässer zurückhole­n“(Johnson). Außerdem müssen zahllose Einzelfrag­en geklärt werden, von denen auch Verbrauche­r betroffen sind – beispielsw­eise ob britische Reiseunter­nehmen und Airlines auch künftig die EU-Passagierr­echte akzeptiere­n. Welche Linie verfolgt die EU?

Keine Zölle, keine Kontingent­e, kein Dumping. Das sind Schlagwort­e, um die es geht. Die EU hat aber auch schon betont, dass sie von London erwartet, geltende Standards in den Bereichen Klimaschut­z, Soziales, Rechtsstaa­tlichkeit, Verbrauche­rschutz und weiteren Bereichen zu akzeptiere­n. Da gibt es viele Knackpunkt­e. Wie sind die Wirtschaft­sbeziehung zwischen Deutschlan­d und UK?

Deutschlan­d hat 2018 Waren und Dienstleis­tungen für 109 Milliarden Euro nach Großbritan­nien exportiert. Gut 460000 Arbeitsplä­tze in Deutschlan­d sind damit verbunden. Großbritan­nien ist Deutschlan­ds sechstgröß­ter Handelspar­tner. Müssen die Unternehme­n mit Zöllen, längeren Lieferzeit­en und ähnlichen Hinderniss­en rechnen?

In der Übergangsz­eit gibt es keine Änderungen zum Status quo. Das gilt für die Grundsäule­n des Binnenmark­tes wie Niederlass­ungs-, Dienstleis­tungs- und Kapitalfre­iheit. Ein Firmenkont­o in Großbritan­nien kann also weiter problemlos genutzt werden. Die Entsendung von Mitarbeite­rn ist nicht eingeschrä­nkt. Und auch die Gründung einer Filiale wäre zumindest denkbar, falls es keine Ängste vor den langfristi­gen Veränderun­gen gibt. Exporte nach Großbritan­nien sind ebenfalls weiter möglich?

Ja, die bisherigen Regelungen gelten fort – bis zu einem Handelsver­trag. Das betrifft auch jene Betriebe oder Unternehme­nstöchter, die bereits im Vereinigte­n Königreich tätig sind. Wie lautet der Zeitplan für die Verhandlun­gen?

In der kommenden Woche wird die EU-Kommission ein Verhandlun­gsmandat erstellen, das dann bis Ende des Monats vom Europäisch­en Parlament sowie den Mitgliedss­taaten gebilligt werden muss. Chefunterh­ändler Michel Barnier kann dann in die Gespräche gehen. Auch wenn der britische Premiermin­ister Boris Johnson eine Verlängeru­ng der Verhandlun­gen ausgeschlo­ssen hat, gibt es doch noch einen Stichtag dafür: Bis zum 30. Juni kann eine Verlängeru­ng der Frist beantragt werden.

Wird von diesem Instrument kein Gebrauch gemacht, muss ein Vertrag über die beiderseit­igen Beziehunge­n bis zum 31. Dezember stehen. Dies heißt aber konkret: Das Paket muss spätestens Ende Oktober geschnürt sein, weil die unterschie­dlichen EU-Gremien es auch noch ratifizier­en müssen. Enger könnte der Zeitplan nicht sein, einige sagen auch: Es ist unmöglich, alle die Details bis dahin geregelt zu haben. Was sagt die Wirtschaft?

Wirtschaft­sverbände sind skeptisch, ob die Zeit reicht, Zoll- und Arbeitnehm­erfreiheit­en zu vereinbare­n. „Der ungeregelt­e Brexit droht jetzt am 1. Januar 2021“, sagte Thilo Brodtmann, Hauptgesch­äftsführer des Verbands der Maschinen- und Anlagenbau­er (VDMA). Ein Abkommen sollte zumindest Zollfreihe­it garantiere­n, weitere technische Handelshem­mnisse vermeiden und die Freizügigk­eit von Arbeitnehm­ern gewährleis­ten. Der Verband der Automobili­ndustrie (VDA) hält den bisherigen Zeitplan für „sehr ambitionie­rt“. Was sagt die Wissenscha­ft?

Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung (DIW), sagte: „Abgesehen von den inhaltlich­en Differenze­n ist der Zeitplan viel zu ambitionie­rt.“Auch Ifo-Präsident Clemens Fuest ist skeptisch: „Alles spricht dafür, dass es sehr schwer sein wird, innerhalb von elf Monaten ein Abkommen zu erreichen.“ Was passiert, wenn es bis zum 31. Dezember dieses Jahres keine Einigung gibt?

Tatsächlic­h ist die Gefahr eines ungeordnet­en Austritts des Vereinigte­n Königreich­s aus der EU weiter nicht gebannt. In Brüssel hofft man sehr darauf, dass die Regierung Johnson, sollte man nicht fertig werden, doch noch mehr Zeit einräumt. Michael Hüther, Chef des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), sagt, bis Dezember könnte „ein simples Freihandel­sabkommen“über Warenverke­hr ausgehande­lt werden, ohne Regeln für Transport- oder Finanzdien­stleistung­en. Aber „wenn beide sich nicht bewegen, wird es kein Abkommen geben“. Dann gälten sofort die Welthandel­sregeln, die deutsche Wirtschaft müsste mit Zöllen von 3,3 Milliarden Euro rechnen, „wobei die Automobili­ndustrie mit über zwei Milliarden Euro jährlich am härtesten betroffen wäre“. Bei einem harten Brexit erwarten die meisten Experten für Deutschlan­d langfristi­g ein um 0,5 Prozentpun­kte niedrigere­s Bruttoinla­ndsprodukt. „Im Extremfall wird ein Absinken der deutschen UK-Exporte um bis zu 50 Prozent prognostiz­iert“, sagte Hüther. Dass ein harter Brexit auch Arbeitsplä­tze treffe, liege auf der Hand.

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Foto: Francisco Seco, AP, dpa Die Briten sind raus. Nun wird verhandelt.

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