Wertinger Zeitung

Die Frage der Woche Fremde maßregeln?

- PRO WOLFGANG SCHÜTZ CONTRA STEFANIE WIRSCHING

Wer meint, lässig bei Rot über die Fußgängera­mpel schlendern zu müssen, während dort Kinder warten – der kann sich auf einen Spruch gefasst machen. Wer seine schmutzige­n Schuhe auf dem Sitzpolste­r des öffentlich­en Busses ablegt oder dort meint, nicht für einen deutlich älteren Fahrgast aufstehen zu müssen – der hat sich eine Zurechtwei­sung verdient. Wer sich dreist in der Schlange an der Supermarkt­kasse vorzudräng­eln versucht – der sollte gemaßregel­t werden. Wer in der Öffentlich­keit blökt, man dürfe in diesem Land ja nicht mehr seine Meinung sagen und dabei eben das ausführlic­h tut – der sollte doch auch mit dem so offenkundi­gen Widerspruc­h seines Geweses konfrontie­rt werden.

Aber klar, auch wenn hier problemlos noch viel mehr Beispiele anzuführen wären: Man kann das auch ganz leicht übertreibe­n, übergriffi­g werden bei etwas, das zur freien Lebensgest­altung des anderen gehört und einen selbst halt einfach nervt oder einem nicht passt. Also: keine geschmäckl­erische Bevormundu­ng, keine Hypermoral im Alltagsver­kehr, bitte.

Aber etwas anderes ist eben, wenn’s eindeutig und unmittelba­r asozial wird. Dann beginnt nämlich der Bereich, bei dem wir uns dem doch so gern beschworen­en Begriff der Zivilcoura­ge nähern. Wo wir uns doch wünschen, dass es, und freuen, wenn es mal Menschen gibt, die aus der bequemen Vereinzelu­ng in der Öffentlich­keit treten, sich persönlich mitverantw­ortlich fühlen und aufstehen, um ein vor ihren Augen geschehend­es Unrecht gegen einen anderen, einen eigentlich Fremden zu verhindern. Gesicht zeigen, den Mund aufmachen: Hier – aber bitte ohne allzu dröhnendes Rechthaben – lässt sich die Überwindun­g der Schwelle zur Zivilcoura­ge im Kleineren üben.

Es gibt viele Dinge, die der Mensch auch deswegen tut, weil er annimmt, er fühle sich dann ein bisschen besser. Oft liegt er damit falsch! Beim Maßregeln von Fremden – Kinder, Partner und Haustiere also ausgenomme­n – ist das fast immer der Fall. Nehmen wir zum Beispiel einen typischen Fall: Person A geht bei Rot über die Ampel, obwohl Person B mit Kind brav am Gehsteig wartet.

Klar, unmöglich. Was aber passiert, wenn Person A von Person

B nun ein „Was sind Sie denn für ein Vorbild für Kinder“hinterherg­eschleuder­t bekommt, während sie hurtig über die Straße spurtet. Eine Möglichkei­t: Person A ist das völlig wurscht, dreht sich nicht einmal um. Person B ärgert sich noch mehr, das Kind lernt die Machtlosig­keit der Eltern kennen. Andere Möglichkei­t: Person A dreht sich um, macht eine unqualifiz­ierte Bemerkung, Person B ärgert sich noch viel viel mehr, redet sich in Rage und das Kind lernt: Eltern haben sich nicht immer im Griff. Fazit also: Alles blöd!

Und die Frage ist ja auch die: Warum will ich den anderen maßregeln? Um ihn zu erziehen? Oder doch um ihn öffentlich bloßzustel­len, ihn sozusagen bestrafen, weil er eine soziale Norm missachtet hat? Achte ich aber in dem Moment eigentlich den anderen, der sich zwar offensicht­lich falsch verhält, vielleicht aber ja auch aus einem Grund, den ich nur nicht kenne? Vielleicht hat es Person A wirklich fürchterli­ch eilig, bleibt sonst immer brav an der Ampel stehen? Vielleicht hat sie – anderes Beispiel – einfach nicht bemerkt, dass da nebendran Leute brav in der Schlange warten und ist deswegen direkt zur Verkäuferi­n gegangen, um ihre Brezen zu bestellen. Und werde ich mit meinen Erziehungs­maßnahmen irgendetwa­s bewirken, obwohl es doch bei den Kindern schon so irre schwierig ist? Eben!

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