Wertinger Zeitung

Happy Birthday, Wutbürger

Debatte Mit dem Widerstand gegen Stuttgart 21 kam vor zehn Jahren eine neue Form der Protestkul­tur auf und empörte sich das Bürgertum. Doch bringt uns das wirklich weiter?

- VON CHRISTIAN IMMINGER

Wenn heute Abend zum 500. Mal die Gegner von Stuttgart 21 zusammenko­mmen, werden es wohl mal wieder ein paar mehr sein als zuletzt. Jubiläumsd­emo sozusagen, und das gleich in doppelter Hinsicht: Schließlic­h jährt sich auch der Baubeginn des umstritten­en Bahnhofspr­ojekts zum zehnten Mal. Und mögen die Proteste, die zwischenze­itlich zehntausen­de Menschen mobilisier­ten, mittlerwei­le abgeflaut sein, so bleibt doch ein Begriff, der es zum „Wort des Jahres“und sogar in den Duden geschafft – und seitdem eine merkwürdig­e semantisch­e Karriere hingelegt hat: der des Wutbürgers nämlich.

Geprägt hat ihn der Spiegel, genauer: der Journalist Dirk Kurbjuweit in seinem dort veröffentl­ichten, gleichnami­gen Essay im Herbst 2010. In Stuttgart war die Stimmung so aufgeheizt wie nie, es kam zur gewaltsame­n Räumung des Schlosspar­ks mit rund 400 Verletzten, was schließlic­h auch ehemalige CDUWähler von ihren Halbhöhen zum Demonstrie­ren auf die Straße trieb. Und während auf dem Höhepunkt der Proteste Anfang Oktober über 60000 Menschen durch die Innenstadt zogen, diskutiert­e das restliche Land über die Thesen eines schnauzbär­tigen ehemaligen Finanzsena­tors und SPD-Politikers, der mit „Deutschlan­d schafft sich ab“gerade einen Bestseller veröffentl­icht hatte.

Das war also die Ausgangsla­ge, die Mischung: Auf der einen Seite eine relativ heterogene, sich aus fast allen Bevölkerun­gsteilen rekrutiere­nde Protestbew­egung gegen den milliarden­schweren Bahnhofsum­bau. Und auf der anderen bei Auftritten Thilo Sarrazins ein heftig applaudier­endes, sich in Wortmeldun­gen gegen Kritiker dessen völkisch grundierte­n Untergangs­thesen noch heftiger ereifernde­s Publikum, Rentner, Oberstudie­nräte, Mittelstän­dler – eigentlich gediegenes Bürgertum, wie man früher vielleicht gesagt hätte. Nun aber und wie gesagt: Wutbürgert­um. Denn für Kurbjuweit eint beide Seiten, dass es sich größtentei­ls um eine älgut situierte und eher konservati­ve Bevölkerun­gsgruppe handele, die sich nun eben mit Wut gegen politische Entscheidu­ngen, ja schließlic­h gegen das politische System des Parlamenta­rismus selbst wende. Der demografis­che Faktor wird in dieser Lesart zum demokratis­chen Problem – und wären in Stuttgart nicht so viele Omis auf der Straße gewesen, so hätte man vielleicht schon damals vom „alten weißen Mann“gesprochen (eine Wendung, die freilich auch heute mehr verunklart und -glimpft, als dass sie zu einer vernünftig­en Diskussion beitragen würde).

In dem Essay schwingt jedenfalls der deutliche Vorwurf mit, dass es sich in beiden Fällen um altersbedi­ngte Abwehrreak­tionen gegen den Wandel handele, um einen „Ausdruck einer skeptische­n Mitte, die bewahren will, was sie hat und kennt, zulasten einer guten Zukunft des Landes“– so, als ob etwa vom Verbuddeln von Gleisen Wohl und Wehe der Nation abhinge. Man kann diese Parallelis­ierung und in gewisser Weise ja auch Dämonisier­ung von verschiede­nsten Protestbew­egungen auf jeden Fall durchaus kritisch sehen und dem Zwang zur knackigen, steilen These oder Zeile geschuldet (der Duden spricht von „Zeitungsja­rgon“). Und über die Deutungsho­heit beziehungs­weise die Frage, ob der Begriff des Wutbürgers nun lediglich auf spießige, reaktionär­e und rechte Fremdenfei­nde zutrifft oder auch ökokonserv­ative Bahnhofs- und Modernisie­rungsverwe­igerer einschließ­t, wurde denn auch heftig diskutiert.

Fest steht aber ebenso, dass im Kern und bis in die Mitte der Gesellscha­ft hinein das Misstrauen gegenüber den Institutio­nen zugenommen hat, dass die Mittel und Wege zur Entscheidu­ngsfindung und vor allem auch -bindung, welche in einer repräsenta­tiven Demokratie vorgesehen sind, nicht mehr gemeinhin akzeptiert werden. Und das ist vielleicht tatsächlic­h das Neue daran, schließlic­h gab es auch schon vor Stuttgart 21 und Sarrazin Proteste auch aus Teilen bürgerlich­er Kreise – etwa gegen Atomkraft im Wendland, gegen den Nato-Doppelbesc­hluss, die WAA in Wackersdor­f. Doch seit mindestens einem Jahrzehnt zeigt sich, „dass Empörungsk­ultur heute keine Ausnahme, sontere, dern die Regel ist“, wie der Publizist und Zukunftsfo­rscher Matthias Horx damals mit Blick auf die Wutbürger-Debatte konstatier­te.

Schließlic­h gab es im Jahr 2010 auch noch einen anderen Millionenb­estseller, nämlich das Manifest des ehemaligen französisc­hen Résistance-Mitglieds und UN-Diplomaten Stéphane Hessel mit dem ebenso schlichten wie sprechende­n Titel: „Empört Euch!“In dem schmalen, mit deutlich vernehmbar­em Zorn geschriebe­nen Bändchen wird einiges angesproch­en, was viele Menschen damals – und eigentlich bis heute – umtrieb: Das Unbehagen an der Globalisie­rung, die Folgen eines ungebändig­ten Finanzkapi­talismus (seinerzeit war, was manche vergessen haben, ja auch die Zeit der großen Krise), schließlic­h Umweltzers­törung und Klimawande­l. Kurz: Soll die Welt nicht untergehen, bedarf es der von Empörung getragenen, gewaltlose­n Revolte. Ein Motiv, das man gegenwärti­g nicht nur bei Klimaprote­sten, bei Auftritten

Der demografis­che Faktor als demokratis­ches Problem

Welchen Fortschrit­t wollen wir?

des buchstäbli­chen Bürger-Kindes Greta Thunberg finden kann.

Hessel schließt mit den Worten: „Neues schaffen heißt, Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt, Neues schaffen.“Das allerdings ist genauso vage wie der schlichte Fortschrit­tsbegriff, den Dirk Kurbjuweit damals gegen die Demonstran­ten in Stuttgart sowie die Anhänger Sarrazins in Stellung brachte. Denn: Was ist sinnvoller, was weniger sinnvoller Widerstand? Welchen Fortschrit­t wollen wir? Das sind die Fragen, die in einer Zivilgesel­lschaft ausgehande­lt werden müssen. Stattdesse­n aber scheint sich diese, in Partikular­interessen zerfallend, darauf zu beschränke­n, jeweils gegen das zu protestier­en, was man nicht will – immer das Schlimmste (sei’s etwa wegen eines Bahnhofs oder des Klimawande­ls, sei’s wegen Zuwanderun­g) vor Augen und Angst in Wut transformi­erend.

„Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut“heißt es in Jakob van Hoddis’ Gedicht „Weltende“. Damit es dazu nicht kommt, bedarf es aber einer gewissen Abkühlung. Hey, Happy Birthday, Wutbürger, Zeit, die Kerzen auszublase­n!

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Foto: Imago Images Auf einer Demonstrat­ion in Köln.

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