Happy Birthday, Wutbürger
Debatte Mit dem Widerstand gegen Stuttgart 21 kam vor zehn Jahren eine neue Form der Protestkultur auf und empörte sich das Bürgertum. Doch bringt uns das wirklich weiter?
Wenn heute Abend zum 500. Mal die Gegner von Stuttgart 21 zusammenkommen, werden es wohl mal wieder ein paar mehr sein als zuletzt. Jubiläumsdemo sozusagen, und das gleich in doppelter Hinsicht: Schließlich jährt sich auch der Baubeginn des umstrittenen Bahnhofsprojekts zum zehnten Mal. Und mögen die Proteste, die zwischenzeitlich zehntausende Menschen mobilisierten, mittlerweile abgeflaut sein, so bleibt doch ein Begriff, der es zum „Wort des Jahres“und sogar in den Duden geschafft – und seitdem eine merkwürdige semantische Karriere hingelegt hat: der des Wutbürgers nämlich.
Geprägt hat ihn der Spiegel, genauer: der Journalist Dirk Kurbjuweit in seinem dort veröffentlichten, gleichnamigen Essay im Herbst 2010. In Stuttgart war die Stimmung so aufgeheizt wie nie, es kam zur gewaltsamen Räumung des Schlossparks mit rund 400 Verletzten, was schließlich auch ehemalige CDUWähler von ihren Halbhöhen zum Demonstrieren auf die Straße trieb. Und während auf dem Höhepunkt der Proteste Anfang Oktober über 60000 Menschen durch die Innenstadt zogen, diskutierte das restliche Land über die Thesen eines schnauzbärtigen ehemaligen Finanzsenators und SPD-Politikers, der mit „Deutschland schafft sich ab“gerade einen Bestseller veröffentlicht hatte.
Das war also die Ausgangslage, die Mischung: Auf der einen Seite eine relativ heterogene, sich aus fast allen Bevölkerungsteilen rekrutierende Protestbewegung gegen den milliardenschweren Bahnhofsumbau. Und auf der anderen bei Auftritten Thilo Sarrazins ein heftig applaudierendes, sich in Wortmeldungen gegen Kritiker dessen völkisch grundierten Untergangsthesen noch heftiger ereiferndes Publikum, Rentner, Oberstudienräte, Mittelständler – eigentlich gediegenes Bürgertum, wie man früher vielleicht gesagt hätte. Nun aber und wie gesagt: Wutbürgertum. Denn für Kurbjuweit eint beide Seiten, dass es sich größtenteils um eine älgut situierte und eher konservative Bevölkerungsgruppe handele, die sich nun eben mit Wut gegen politische Entscheidungen, ja schließlich gegen das politische System des Parlamentarismus selbst wende. Der demografische Faktor wird in dieser Lesart zum demokratischen Problem – und wären in Stuttgart nicht so viele Omis auf der Straße gewesen, so hätte man vielleicht schon damals vom „alten weißen Mann“gesprochen (eine Wendung, die freilich auch heute mehr verunklart und -glimpft, als dass sie zu einer vernünftigen Diskussion beitragen würde).
In dem Essay schwingt jedenfalls der deutliche Vorwurf mit, dass es sich in beiden Fällen um altersbedingte Abwehrreaktionen gegen den Wandel handele, um einen „Ausdruck einer skeptischen Mitte, die bewahren will, was sie hat und kennt, zulasten einer guten Zukunft des Landes“– so, als ob etwa vom Verbuddeln von Gleisen Wohl und Wehe der Nation abhinge. Man kann diese Parallelisierung und in gewisser Weise ja auch Dämonisierung von verschiedensten Protestbewegungen auf jeden Fall durchaus kritisch sehen und dem Zwang zur knackigen, steilen These oder Zeile geschuldet (der Duden spricht von „Zeitungsjargon“). Und über die Deutungshoheit beziehungsweise die Frage, ob der Begriff des Wutbürgers nun lediglich auf spießige, reaktionäre und rechte Fremdenfeinde zutrifft oder auch ökokonservative Bahnhofs- und Modernisierungsverweigerer einschließt, wurde denn auch heftig diskutiert.
Fest steht aber ebenso, dass im Kern und bis in die Mitte der Gesellschaft hinein das Misstrauen gegenüber den Institutionen zugenommen hat, dass die Mittel und Wege zur Entscheidungsfindung und vor allem auch -bindung, welche in einer repräsentativen Demokratie vorgesehen sind, nicht mehr gemeinhin akzeptiert werden. Und das ist vielleicht tatsächlich das Neue daran, schließlich gab es auch schon vor Stuttgart 21 und Sarrazin Proteste auch aus Teilen bürgerlicher Kreise – etwa gegen Atomkraft im Wendland, gegen den Nato-Doppelbeschluss, die WAA in Wackersdorf. Doch seit mindestens einem Jahrzehnt zeigt sich, „dass Empörungskultur heute keine Ausnahme, sontere, dern die Regel ist“, wie der Publizist und Zukunftsforscher Matthias Horx damals mit Blick auf die Wutbürger-Debatte konstatierte.
Schließlich gab es im Jahr 2010 auch noch einen anderen Millionenbestseller, nämlich das Manifest des ehemaligen französischen Résistance-Mitglieds und UN-Diplomaten Stéphane Hessel mit dem ebenso schlichten wie sprechenden Titel: „Empört Euch!“In dem schmalen, mit deutlich vernehmbarem Zorn geschriebenen Bändchen wird einiges angesprochen, was viele Menschen damals – und eigentlich bis heute – umtrieb: Das Unbehagen an der Globalisierung, die Folgen eines ungebändigten Finanzkapitalismus (seinerzeit war, was manche vergessen haben, ja auch die Zeit der großen Krise), schließlich Umweltzerstörung und Klimawandel. Kurz: Soll die Welt nicht untergehen, bedarf es der von Empörung getragenen, gewaltlosen Revolte. Ein Motiv, das man gegenwärtig nicht nur bei Klimaprotesten, bei Auftritten
Der demografische Faktor als demokratisches Problem
Welchen Fortschritt wollen wir?
des buchstäblichen Bürger-Kindes Greta Thunberg finden kann.
Hessel schließt mit den Worten: „Neues schaffen heißt, Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt, Neues schaffen.“Das allerdings ist genauso vage wie der schlichte Fortschrittsbegriff, den Dirk Kurbjuweit damals gegen die Demonstranten in Stuttgart sowie die Anhänger Sarrazins in Stellung brachte. Denn: Was ist sinnvoller, was weniger sinnvoller Widerstand? Welchen Fortschritt wollen wir? Das sind die Fragen, die in einer Zivilgesellschaft ausgehandelt werden müssen. Stattdessen aber scheint sich diese, in Partikularinteressen zerfallend, darauf zu beschränken, jeweils gegen das zu protestieren, was man nicht will – immer das Schlimmste (sei’s etwa wegen eines Bahnhofs oder des Klimawandels, sei’s wegen Zuwanderung) vor Augen und Angst in Wut transformierend.
„Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut“heißt es in Jakob van Hoddis’ Gedicht „Weltende“. Damit es dazu nicht kommt, bedarf es aber einer gewissen Abkühlung. Hey, Happy Birthday, Wutbürger, Zeit, die Kerzen auszublasen!