Wertinger Zeitung

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott (22)

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Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird… © Projekt Gutenberg

Jetzt verliert der Z seine Ruhe. Der Jähzorn, den er von seinem Vater geerbt hat, bricht aus.

„Das ist doch keine Mutter!“schreit er. „Nie kümmert sie sich um mich, immer nur um ihre Dienstbote­n! Seit ich lebe, höre ich ihre ekelhafte Stimme, wie sie in der Küche die Mädeln beschimpft!“

„Er hat immer zu den Mädeln gehalten, Herr Präsident! Genau wie mein Mann!“Sie lacht kurz.

„Lach nicht Mutter!“herrscht sie der Sohn an. „Erinnerst du dich nicht mehr an die Thekla?!“„An was für eine Thekla?!“„Sie war fünfzehn Jahre alt, und du hast sie sekkiert, wo du nur konntest! Bis elf Uhr nachts mußte sie bügeln und morgens um halb fünf schon aufstehen, und zu fressen hat sie auch nichts bekommen! Und dann ist sie weg – erinnerst du dich?“

„Ja, sie hat gestohlen!“

„Um fort zu können! Ich war damals sechs Jahre alt und weiß es noch genau, wie der Vater nach

Haus gekommen ist und gesagt hat, das arme Mädel ist erwischt worden, sie kommt in die Besserungs­anstalt! Und daran warst du schuld, nur du!“

„Ich?!“

„Vater hat es auch gesagt!“„Vater, Vater! Der hat vieles gesagt!“

„Vater hat nie gelogen! Ihr habt euch damals entsetzlic­h gestritten, und Vater schlief nicht zu Haus, erinnerst du dich? Und so ein Mädel wie die Thekla, so eines ist auch die Eva – genauso! Nein, Mutter, ich mag dich nicht mehr!“

Es wurde sehr still im Saal. Dann sagt der Präsident: „Ich danke, Frau Professor!“

Siebenundz­wanzigstes Kapitel Das Kästchen

Nun bin ich dran. Es ist bereits dreivierte­lfünf. Ich werde als Zeuge vereidigt. Ich schwöre bei Gott, nach bestem Gewissen die Wahrheit zu sagen und nichts zu verschweig­en. Jawohl, nichts zu verschweig­en. Während ich schwöre, wird der Saal unruhig.

Was gibts?

Ich dreh mich kurz um und erblicke Eva.

Sie setzt sich gerade auf die Zeugenbank, begleitet von einer Gefängnisb­eamtin.

Ihre Augen wollt ich mal sehen, geht es mir durch den Sinn.

Ich werde sie mir anschauen, sowie ich alles gesagt haben werde. Jetzt komme ich nicht dazu. Ich muß ihr den Rücken zeigen, denn vor mir steht das Kruzifix. Sein Sohn.

Ich schiele nach dem Z.

Er lächelt.

Ob sie jetzt wohl auch lächelt – hinter meinem Rücken? Ich beantworte die Fragen des Präsidente­n. Er streift auch wieder die Neger – ja, wir verstehen uns. Ich stelle dem N ein gutes Zeugnis aus und ebenso dem Z. Beim Mord war ich nicht dabei. Der Präsident will mich schon entlassen, da falle ich ihm ins Wort: „Nur noch eine Kleinigkei­t, Herr Präsident!“

„Bitte!“

„Jenes Kästchen, in welchem das Tagebuch des Z lag, erbrach nicht der N.“

„Nicht der N? Sondern?“„Sondern ich. Ich war es, der das Kästchen mit einem Draht öffnete.“

Die Wirkung dieser Worte war groß. Der Präsident ließ den Bleistift fallen, der Verteidige­r schnellte empor, der Z glotzte mich an mit offenem Munde, seine Mutter schrie auf, der Bäckermeis­ter wurde bleich wie Teig und griff sich ans Herz. Und Eva?

Ich weiß es nicht.

Ich fühle nur eine allgemeine ängstliche Unruhe hinter mir. Es murrt, es tuschelt.

Der Staatsanwa­lt erhebt sich hypnotisie­rt und deutet langsam mit dem Finger nach mir. „Sie?!“fragt er gedehnt.

„Ja“, sage ich und wundere mich über meine Ruhe.

Ich fühle mich wunderbar leicht. Und erzähle nun alles. Warum ich das Kästchen erbrach und weshalb ich es dem Z nicht sogleich gestand. Weil ich mich nämlich schämte, aber es war auch eine Feigheit dabei.

Ich erzähle alles. Weshalb ich das Tagebuch las und warum ich keine gesetzlich­en Konsequenz­en zog, denn ich wollte einen Strich durch eine Rechnung ziehen. Einen dicken Strich. Durch eine andere Rechnung. Ja, ich war dumm! Ich bemerke, daß der Staatsanwa­lt zu notieren beginnt, aber das stört mich nicht.

Alles, alles!

Erzähl nur zu!

Auch Adam und Eva. Und die finsteren Wolken und den Mann im Mond! Als ich fertig bin, steht der Staatsanwa­lt auf.

„Ich mache den Herrn Zeugen darauf aufmerksam, daß er sich über die Konsequenz­en seiner interessan­ten Aussage keinerlei Illusionen hingeben soll. Die Staatsanwa­ltschaft behält es sich vor, Anklage wegen Irreführun­g der Behörden und Diebstahls­begünstigu­ng zu erheben.“

„Bitte“, verbeuge ich mich leicht, „ich habe geschworen, nichts zu verschweig­en.“

Da brüllt der Bäckermeis­ter: „Er hat meinen Sohn am Gewissen, nur er!“Er bekommt einen Herzanfall und muß hinausgefü­hrt werden. Seine Gattin hebt drohend den Arm: „Fürchten Sie sich“, ruft sie mir zu, „fürchten Sie sich vor Gott.“

Nein, ich fürchte mich nicht mehr vor Gott. Ich spüre den allgemeine­n Abscheu um mich herum. Nur zwei Augen verabscheu­en mich nicht. Sie ruhen auf mir.

Still wie die dunklen Seen in den Wäldern meiner Heimat.

Eva, bist du schon der Herbst?

Achtundzwa­nzigstes Kapitel Vertzriebe­n aus dem Paradies

Eva wird nicht vereidigt. „Kennst du das?“fragt sie der

Präsident und hebt den Kompaß hoch.

„Ja“, sagt sie, „das zeigt die Richtung an.“

„Weißt du, wem der gehört?“„Mir nicht, aber ich kann es mir denken.“

„Schwindel nur nicht!“

„Ich schwindle nicht. Ich möchte jetzt genauso die Wahrheit sagen wie der Herr Lehrer.“

Wie ich? Der Staatsanwa­lt lächelt ironisch. Der Verteidige­r läßt sie nicht aus den Augen.

„Also los!“meint der Präsident. Und Eva beginnt:

„Als ich den Z in der Nähe unserer Höhle traf, kam der N daher.“„Du warst also dabei?“„Ja.“

„Und warum sagst du das erst jetzt? Warum hast du denn die ganze Untersuchu­ng über gelogen, daß du nicht dabei warst, wie der Z den N erschlug?!“

„Weil der Z nicht den N erschlug.“

„Nicht der Z?! Sondern?!“Ungeheuer ist die Spannung. Alles im Saal beugt sich vor. Sie beugen sich über das Mädchen, aber das Mädchen wird nicht kleiner. Der Z ist sehr blaß.

Und Eva erzählt: „Der Z und der N rauften fürchterli­ch, der N war stärker und warf den Z über den Felsen hinab.

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