Wertinger Zeitung

Von Seelenpein aus der Mundhöhle

Diagnostik Psychosoma­tik spielt in der Zahnheilku­nde eine nicht zu unterschät­zende Rolle. Denn viele Beschwerde­n haben keine organische Ursache, können aber sehr heftig werden. Das muss bei der Therapie bedacht werden

- VON ANETTE BRECHT-FISCHER

Die Mundschlei­mhaut brennt, als wenn ein inneres Feuer lodern würde, die Zunge kribbelt und schmerzt, der Mund fühlt sich wund an. Es beginnt morgens und steigert sich im Laufe des Tages. Müdigkeit und Abgeschlag­enheit kommen hinzu. So oder ähnlich könnte die Schilderun­g einer Patientin sein, die am Burning-Mouth-Syndrom leidet. Doch trotz intensiver Suche finden oft weder Hausarzt noch Zahnarzt einen organische­n oder zahnmedizi­nischen Grund für die Beschwerde­n. „Es herrscht eine Diskrepanz zwischen objektivem Befund und subjektive­r Befindlich­keit“, sagt Anne Wolowski. Die Zahnmedizi­nerin ist Oberärztin der Poliklinik für Prothetisc­he Zahnmedizi­n am Universitä­tsklinikum Münster und Vorsitzend­e des Arbeitskre­ises Psychologi­e und Psychosoma­tik der Deutschen Gesellscha­ft für Zahn-, Mund- und Kieferheil­kunde (DGZMK).

Sie befasst sich seit Jahren mit dem Thema, wie sehr psychische und soziale Faktoren in die Krankheits­bilder der Zahnmedizi­n hineinspie­len. Wenn der Befund nicht zu den Beschwerde­n des Patienten passt, dann sollte der Blickwinke­l erweitert und auch das seelische Befinden einbezogen werden. Darüber spricht niemand gern mit seinem Zahnarzt. Doch „es ist ganz wichtig, das Tabu zu brechen und die Selbstvers­tändlichke­it hervorzuhe­ben, dass auch solche Störungen in der Zahnmedizi­n häufig vorkommen“, betont Anne Wolowski.

Die Psychosoma­tik betrachtet den Menschen ganzheitli­ch und berücksich­tigt seelische Aspekte bei der Entstehung von Krankheite­n. Die aktuelle Lebenssitu­ation mit Belastunge­n wie Scheidung, Tod eines Angehörige­n oder Stress im Beruf, aber auch weit zurücklieg­ende traumatisc­he Erlebnisse können sich auf die Gesundheit auswirken. Auf dem Gebiet der Zahnmedizi­n sind infrage kommende Krankheits­bilder etwa die Prothesenu­nverträgli­chkeit, das Burning-Mouth-Syndrom, Zähneknirs­chen oder übersteige­rte Angst beim Zahnarzt. Auch eine chronische Parodontit­is und sogar Karies bei Kleinkinde­rn können in Zusammenha­ng mit dem seelischen Befinden (der Eltern) stehen. Psychische Beschwerde­n können aber nicht nur als Auslöser körperlich­er Erkrankung­en auftreten, sondern auch als Folge.

Es gibt bislang keine Studien darüber, wie häufig psychosoma­tische Erkrankung­en in der Zahnarztpr­axis vorkommen. Man nimmt aber an, dass es der gleiche Prozentsat­z ist wie in der Praxis eines Allge

meinmedizi­ners – also etwa zwischen 20 und 30 Prozent. Frauen scheinen häufiger betroffen zu sein. Die Patienten klagen beim Zahnarzt über andauernde, quälende Schmerzen im Mund- und Kieferbere­ich, die häufig nach dem Ziehen eines Zahnes, einer Wurzelbeha­ndlung oder nach dem Einsetzen einer Prothese entstehen. Im letzteren Fall beschreibe­n sie Druckschme­rzen, Spannungsg­efühle, Schleimhau­tbrennen oder Würgereize, obwohl

leiden unter einer Angsterkra­nkung, der Zahnbehand­lungsphobi­e. Das Gefühl, ausgeliefe­rt zu sein, scheint – neben anderen Aspekten wie zum Beispiel schlechte Erfahrunge­n – Auslöser zu sein.

● In solchen Fällen hilft langfristi­g nur eine Psychother­apie, um die übersteige­rte Angst abzubauen. Oft reicht dazu schon eine einzige Sitzung beim Psychother­apeuten. Rund 70 Prozent der Betroffene­n fühlen sich hinterher von ihrer Phobie geheilt.

● Manche Zahnärzte bieten ängstli

der Zahnersatz technisch in Ordnung ist und keine organische­n Ursachen für die Schmerzen gefunden werden. Dennoch sind die Beschwerde­n vorhanden und nicht etwa nur Einbildung. Mitunter fühlen sich Patienten von ihrem Zahnarzt nicht ernst genommen und wechseln zum nächsten Arzt oder stellen sich beim Notdienst vor. Viele klammern sich an die Hoffnung, dass bei der bisherigen Behandlung etwas falsch lief und der chen Patienten, die immerhin den Gang zum Zahnarzt geschafft haben, eine Hypnose vor der Behandlung an. Dabei leiten sie die Patienten dazu an, sich gedanklich auf angenehme Aktivitäte­n wie etwa Urlaubsunt­ernehmunge­n zu konzentrie­ren. Aber auch Musik oder Entspannun­gsanweisun­gen über Kopfhörer können den Patienten beruhigen. Darüber hinaus wünschen sich natürlich alle Patienten eine ausführlic­he Aufklärung, einen mitfühlend­en Arzt und eine schmerzfre­ie Behandlung.

Fehler vom nächsten Arzt endlich gefunden wird.

Die Verunsiche­rung und Anspannung der Betroffene­n ist groß, sodass häufig die Schmerzen noch stärker werden. „Die Beschwerde­n nehmen einen großen Bereich in ihrem Leben ein“, erklärt Wolowski. „Sie machen beispielsw­eise keinen Urlaub mehr, gehen nicht mehr zum Essen, treffen keine Freunde und ziehen sich total zurück.“

Damit den Patienten geholfen werden kann, muss auch bei manchen Zahnärzten ein Umdenken stattfinde­n. Während des Studiums erfahren die angehenden Zahnmedizi­ner kaum etwas über psychosoma­tische Zusammenhä­nge.

„In Fortbildun­gen versuchen wir die Zahnärzte zu sensibilis­ieren, damit sie die betroffene­n Patienten erkennen“, so Anne Wolowski. „Der Zahnarzt muss offen damit umgehen. Eine vertrauens­volle Zusammenar­beit mit dem Patienten ist ganz wichtig.“

Wenn ein Patient zum ersten Mal in die Praxis kommt, sollte sich der Zahnarzt auch ein Bild vom persönlich­en Umfeld des Patienten machen, so die Empfehlung des Arbeitskre­ises Psychologi­e und Psychosoma­tik in der DGZMK. Oft ergeben sich dabei schon Anhaltspun­kte dafür, dass psychische Faktoren an den Beschwerde­n beteiligt sein können. Eine ausführlic­he Unterhaltu­ng ist aber heutzutage in der Zahnarztpr­axis kaum möglich, sodass als Ergänzung eventuell Fragebögen, die der Patient vorher ausfüllen kann, verwendet werden können. Die Diagnose einer psychosoma­tischen Störung darf auf keinen Fall leichtfert­ig gestellt werden. Eine besonders gründliche Abklärung ist daher gerade bei – vermeintli­ch – schwierige­n Patienten unabdingba­r.

Die Therapie psychosoma­tischer Störungen ist nicht einfach, unabhängig davon, ob sich die Beschwerde­n im Mund oder anderswo bemerkbar machen. „Aufklärung ist der erste Weg in die Therapie“, erklärt Wolowski. „Die Diagnose muss für den Patienten nachvollzi­ehbar sein. Er muss sehen, dass sich der Arzt ernsthaft bemüht, ihm zu helfen.“Fingerspit­zengefühl und subtile Gesprächsf­ührung des Zahnarztes können dem Betroffene­n Wege aufzeichne­n, nicht ausschließ­lich körperlich­e Gründe für seine Erkrankung zu sehen und dies auch zu akzeptiere­n. Akut therapiebe­dürftige, körperlich­e Beschwerde­n müssen behandelt werden. Aber die Versorgung etwa mit einer neuen Prothese sollte nicht die erste Maßnahme sein.

„Eventuell kann der Zahnarzt die Zusammenar­beit mit dem Hausarzt oder einem Psychosoma­tiker oder Psychother­apeuten suchen, um bei der Diagnostik und Therapie kompetente Unterstütz­ung zu bekommen. In jedem Fall muss der Zahnarzt die somatische Kompetenz in diese Zusammenar­beit einbringen. Auch die Überweisun­g in eine spezielle Sprechstun­de, wie wir sie in Münster anbieten, ist eine Möglichkei­t. Leider gibt es so etwas noch nicht überall“, ergänzt Anne Wolowski.

 ?? Foto: Rolf Vennenbern­d, dpa ?? Für viele beginnt die Hölle schon, wenn sie nur das Geräusch eines Zahnarztbo­hrers hören.
Foto: Rolf Vennenbern­d, dpa Für viele beginnt die Hölle schon, wenn sie nur das Geräusch eines Zahnarztbo­hrers hören.

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