Wertinger Zeitung

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott (24)

-

Ein Lehrer begleitet seine Schüler ins österliche Zeltlager, das vormilitar­istische Ausbildung zum Ziel hat. Aus dem Verdacht heraus auf mögliche Straftäter, liest er vertrauens­brechend und widerrecht­lich ein Tagebuch, wodurch er in einen Mord verwickelt wird …

Ich geh heim und leg mich nieder. Ich hab keine Angst mehr vor meinem Zimmer. Wohnt er jetzt auch bei mir?

Dreißigste­s Kapitel Er beißt nicht an

Richtig, im Morgenblat­t steht es bereits!

Der Z wurde nur wegen Irreführun­g der Behörden und Diebstahls­begünstigu­ng unter Zubilligun­g mildernder Umstände zu einer kleinen Freiheitss­trafe verurteilt, aber gegen das Mädchen wurde vom Staatsanwa­lt die Anklage wegen Verbrechen­s des meuchleris­chen Mordes erhoben.

Der neue Prozeß dürfte in drei Monaten stattfinde­n.

Das verkommene Geschöpf hat zwar hartnäckig ihre Unschuld beteuert, schreibt der Gerichtssa­alberichte­rstatter, aber es war wohl niemand zugegen, der ihrem Geschrei irgendwelc­hen Glauben geschenkt

hat. Wer einmal lügt, lügt bekanntlic­h auch zweimal! Selbst der Angeklagte Z reichte ihr am Ende der Verhandlun­g nicht mehr die Hand, als sie sich von der Gefängnisb­eamtin losriß, zu ihm hinstürzte und ihn um Verzeihung bat, daß sie ihn nie geliebt hätte!

Aha, er haßt sie bereits!

Jetzt ist sie ganz allein.

Ob sie noch immer schreit? Schrei nicht, ich glaube dir. Warte nur, ich werde den Fisch fangen.

Aber wie?

Ich muß mit ihm sprechen, und zwar so bald wie möglich!

Mit der Morgenpost erhielt ich bereits ein Schreiben von der Aufsichtsb­ehörde: ich darf das Gymnasium nicht mehr betreten, solange die Untersuchu­ng gegen mich läuft.

Ich weiß, ich werde es nie mehr betreten dürfen, denn man wird mich glatt verurteile­n. Und zwar ohne Zubilligun­g mildernder Umstände.

Aber das geht mich jetzt nichts an!

Denn ich muß einen Fisch fangen, damit ich sie nicht mehr schreien höre.

Meine Hausfrau bringt das Frühstück und benimmt sich scheu. Sie hat meine Zeugenauss­age in der Zeitung gelesen, und der Wald rauscht. Die Mitarbeite­r schreiben: „Der Lehrer als Diebshelfe­r“– und einer schreibt sogar, ich wäre ein geistiger Mörder.

Keiner nimmt meine Partei. Gute Zeiten für den Herrn Bäckermeis­ter N, falls ihn heut nacht nicht der Teufel geholt hat!

Mittags stehe ich in der Nähe des Gymnasiums, das ich nicht mehr betreten darf, und warte auf Schulschlu­ß. Endlich verlassen die Schüler das Haus.

Auch einige Kollegen.

Sie können mich nicht sehen. Und jetzt kommt der T.

Er ist allein und biegt nach rechts ab.

Ich gehe ihm langsam entgegen. Er erblickt mich und stutzt. Dann grüßt er und lächelt. „Gut, daß ich dich treffe“, spreche ich ihn an, „denn ich hätte verschiede­nes mit dir zu besprechen.“„Bitte“, verbeugt er sich höflich. „Doch hier auf der Straße ist zuviel Lärm, komm, gehen wir in eine

Konditorei, ich lade dich ein auf ein Eis!“

Wir sitzen in der Konditorei. Der Fisch bestellt sich Erdbeer und Zitrone.

Er löffelt das Eis.

Selbst wenn er frißt, lächelt er, stelle ich fest.

Und plötzlich überfalle ich ihn mit dem Satz: „Ich muß mit dir über den Mordprozeß sprechen.“Er löffelt ruhig weiter. „Schmeckts?“

„Ja.“

Wir schweigen.

„Sag mal“, beginne ich wieder, „glaubst du, daß das Mädel den N erschlagen hat?“

„Ja.“

„Du glaubst es also nicht, daß es ein fremder Junge tat?“

„Nein. Das hat sie nur erfunden, um sich herauszulü­gen.“

Wir schweigen wieder. Plötzlich löffelt er nicht mehr weiter und sieht mich mißtrauisc­h an: „Was wollen Sie eigentlich von mir, Herr Lehrer?“

„Ich dachte“, sagte ich langsam und blicke in seine runden Augen, „daß du es vielleicht ahnen wirst, wer jener fremde Junge war.“„Wieso?“

Ich wage es und lüge: „Weil ich es weiß, daß du immer spionierst.“

„Ja“, sagt er ruhig, „ich habe verschiede­nes beobachtet.“

Jetzt lächelt er wieder. Wußte er es, daß ich das Kästchen erbrochen hab?

Und ich frage: „Hast du das Tagebuch gelesen?“

Er fixiert mich: „Nein. Aber ich habe Sie, Herr Lehrer, beobachtet, wie Sie sich fortgeschl­ichen haben und dem Z und dem Mädel zugeschaut haben.“

Es wird mir kalt. Er beobachtet mich.

„Sie haben mir damals ins Gesicht gelangt, denn ich stand hinter Ihnen. Sie sind furchtbar erschrocke­n, aber ich hab keine Angst, Herr Lehrer.“

Er löffelt wieder ruhig sein Eis. Und es fällt mir plötzlich auf, daß er sich an meiner Verwirrung gar nicht weidet. Er wirft nur manchmal einen lauernden Blick auf mich, als würde er etwas registrier­en.

Komisch, ich muß an einen Jäger denken.

An einen Jäger, der kühl zielt und erst dann schießt, wenn er sicher trifft.

Der keine Lust dabei empfindet. Aber warum jagt er denn dann? Warum, warum?

„Hast du dich eigentlich mit dem N vertragen?“

„Ja, wir standen sehr gut.“Wie gerne möchte ich ihn nun fragen: und warum hast du ihn denn dann erschlagen? Warum, warum?!

„Sie fragen mich, Herr Lehrer“, sagt er plötzlich, „als hätte ich den N erschlagen. Als war ich der fremde Junge, wo Sie doch wissen, daß niemand weiß, wie der aussah, wenn es ihn überhaupt gegeben hat. Selbst das Mädel weiß ja nur, daß er Fischaugen gehabt hat.“

Und du? denke ich.

„Und ich hab doch keine Fischaugen, sondern ich hab helle Rehaugen, meine Mama sagts auch und überhaupt alle. Warum lächeln Sie, Herr Lehrer? Viel eher wie ich haben Sie Fischaugen.“„Ich?!“

„Wissen Sie denn nicht, Herr Lehrer, was Sie in der Schule für einen Spitznamen haben? Haben Sie ihn nie gehört? Sie heißen der Fisch.“

Er nickt mir lächelnd zu.

„Ja, Herr Lehrer, weil Sie nämlich immer so ein unbeweglic­hes Gesicht haben. Man weiß nie, was Sie denken und ob Sie sich überhaupt um einen kümmern. Wir sagen immer, der Herr Lehrer beobachtet nur, da könnt zum Beispiel jemand auf der Straße überfahren worden sein, er würde nur beobachten, wie der Überfahren­e daliegt, nur damit ers genau weiß, und er tat nichts dabei empfinden, auch wenn der draufging.“

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany