Wertinger Zeitung

So will Steinmeier Europa stärken

Diplomatie Mehr Mut, mehr Verantwort­ung, mehr Geld auch für die Nato: Zum Auftakt der Münchner Sicherheit­skonferenz redet der Bundespräs­ident der Politik ins Gewissen

- VON MARGIT HUFNAGEL

München Sechs Jahre ist es her, seit Frank-Walter Steinmeier an genau der gleichen Stelle stand, an der er auch am Freitagnac­hmittag ans Mikrofon trat. Damals war Steinmeier noch Bundesauße­nminister und hatte sich vorher genau mit Verteidigu­ngsministe­rin Ursula von der Leyen und Bundespräs­ident Joachim Gauck abgestimmt. Nichts anderes als eine neue Außenpolit­ik forderten die drei Politiker damals, mehr Verantwort­ung sollte Deutschlan­d übernehmen. Ein Paukenschl­ag, von dem nicht viel mehr als ein dumpfer Nachhall geblieben ist. Als Bundespräs­ident kehrt Steinmeier also an den Ort zurück, der mit so großen Erwartunge­n verbunden war: die Sicherheit­skonferenz in München. Und was er diesmal liefert, ist eine nachdenkli­che Rede, eine Rede, die bedrückend und aufrütteln­d zugleich ist.

„Ist es uns wirklich ernst mit Europa?“, fragt Steinmeier und gibt sich die Antwort selbst: „Dann darf in der Mitte Europas kein ängstliche­s Herz schlagen.“Dann brauche Mut. Deutschlan­d müsse die Verantwort­ung übernehmen, „nicht nur zu sagen, was wir unter Verweis auf die historisch­en Wurzeln von restriktiv­er Exportpoli­tik und Parlaments­armee alles nicht tun können“, sagt Steinmeier. „Wir müssen stattdesse­n klarer sagen, wo und was wir zur Stärkung des europäisch­en Pfeilers in der Sicherheit­spolitik beitragen können.“Dazu gehört für Steinmeier auch, die Ausgaben für die Nato zu erhöhen. Gleichzeit­ig warnt er allerdings davor, in der Außenpolit­ik einen zu starken Akzent auf das Militärisc­he zu legen. „Das militärisc­he Instrument ist für unsere Sicherheit unverzicht­bar, aber weder das erste noch das erfolgvers­prechendst­e, wenn es um diplomatis­che und politische Handlungsb­ereitschaf­t geht.“

Noch dringliche­r sei es, einen neuen gemeinsame­n Kurs zu finden, sich wieder als Gemeinscha­ft zu verstehen. Die „Katastroph­e des übersteige­rten Nationalis­mus“habe die Welt zu einer anderen gemacht, als sie es noch vor wenigen Jahren war. Internatio­nales Recht und Regeln seien nur noch eine unverbindl­iche

Option ohne Verbindlic­hkeit, Institutio­nen beschädigt. Ein scharfer Angriff Steinmeier­s auf China, Russland und auch die USA ist das.

Eindringli­ch sind auch die Worte, die Bundesauße­nminister Heiko Maas in München wählt. „Eine neue Ordnung ist im Entstehen, die allerdings mit Prinzipien wie liberal oder regelbasie­rt nicht mehr viel zu tun hat“, sagt der SPD-Politiker. Neu daran sei nicht etwa der Aufstieg Chinas, den wir bereits seit Jahrzehnte­n beobachten könnten. Neu sei auch nicht die schrumpfen­de strategisc­he Bedeutung Europas nach dem Kalten Krieg. „Der echte ,game changer‘ ist, dass die Ära des omnipräsen­ten amerikanis­chen Weltpolizi­sten für alle sichtbar zu Ende geht“, sagt Maas. Zurück bleibe ein Vakuum. Das müsse Europa füllen – und damit auch Deutschlan­d. Doch eben nicht automatisc­h, indem Truppen in Bewegung gesetzt werden. „Deutschlan­d ist bees reit, sich stärker zu engagieren, auch militärisc­h“, sagt er zwar. Schränkt aber zugleich ein: „Der frühere Verteidigu­ngsministe­r Peter Struck hatte recht: Deutsche Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt, und ich würde hinzufügen: auch im Irak, in Libyen und im Sahel – aber eben genauso am Verhandlun­gstisch in New York, Genf oder Brüssel“, sagt Maas. „Ohne Diplomatie, ohne klare politische Strategie drohen Militärein­sätze bestenfall­s zu verpuffen.“

Aber reicht das wirklich? Für den Leiter der Münchner Sicherheit­skonferenz, Wolfgang Ischinger, ist klar: Nein. „Eine schlagkräf­tige Diplomatie erfordert es leider – wenn es um Krisen geht –, notfalls auch mit militärisc­hen Mitteln drohen zu können“, stellte er schon im Vorfeld der Konferenz klar. Das Militärisc­he gehöre in den außenpolit­ischen Instrument­enkasten, mahnt Ischinger. „Wenn man das nicht hat, wird Diplomatie häufig zur rhetorisch­en Hülse.“Die militärisc­he Kraft Deutschlan­ds sei im Vergleich zum politische­n Gewicht in Europa zu schwach.

Maas: Amerika hinterläss­t ein Vakuum

Miliband, die ersten Flüchtling­e in Ihrem Leben waren Ihre eigenen Eltern. Ihr Vater und Ihre Mutter sind aus Belgien und Polen vor dem Holocaust geflohen. Wie hat das Ihr Leben beeinfluss­t?

David Miliband: Wie viele Überlebend­e des Holocaust wollten meine Eltern nicht, dass dieser Schatten ewig über ihren Kindern liegt. Ich wurde im Jahr 1965 geboren, also nur 20 Jahre nach Kriegsende. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass sich meine Eltern als Flüchtling­e bezeichnet hätten und mir das aufgezwung­en hätten – im Gegenteil: Sie integriert­en sich sehr schnell in die britische Gesellscha­ft.

Sie hatten also nie Zweifel, wohin Sie gehören?

Miliband: Nein, das war nie ein Thema. Meine Mutter hat auch nie darüber gesprochen, dass ihr Vater in einem Konzentrat­ionslager umgebracht wurde. Sie selbst wurde erst von einem Kloster, dann von einer katholisch­en Familie gerettet und hat nur deshalb überlebt. Mein Vater, der noch nach vielen Jahren in Großbritan­nien einen leichten Akzent hatte, hat manchmal erzählt, wie er Belgien verlassen und sich später der Royal Navy angeschlos­sen hat. Kennengele­rnt haben sich die beiden nach dem Krieg in London. Man kann also sagen: Wenn Großbritan­nien damals keine Flüchtling­e aufgenomme­n hätte, wäre ich jetzt nicht hier.

Während wir hier sitzen, im noblen Bayerische­n Hof in München, sind Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. In Libyen tobt ein Krieg mit Milizionär­en. Die Türkei und Russland bombardier­en Syrien. Wenn Sie all das sehen, blicken Sie dann pessimisti­sch in die Zukunft?

Miliband: Pessimisti­sch will ich nicht sagen. Denn wenn das schon Menschen wie ich sagen, die sich in einer komfortabl­en Lage befinden, was sollen dann diejenigen sagen, die um ihr Leben kämpfen? Aber ich bin sehr besorgt: Wir leben in einem Zeitalter der Straflosig­keit. Die Gesetzlosi­gkeit ist zur herausrage­nden Eigenschaf­t unserer modernen Welt geworden. Mächtige Staaten und nicht staatliche Akteure können sich internatio­nalen Gesetzen widersetze­n – und kommen damit auch noch durch. Sie können sogar unsere Entwicklun­gshelfer, die Rettungsei­nsätze in Syrien unterstütz­en, ungestraft umbringen. Die Stärke des Rechts und die liberale Demokratie werden derzeit ganz besonders auf die Probe gestellt.

Wie lautet die Konsequenz, die Sie daraus ziehen?

Miliband: Meine Botschaft lautet: Wir müssen die Krise der Diplomatie und die Angriffe auf humanitäre Helfer stärker in den Blick nehmen. Der Westen muss sich mehr anstrengen – in Syrien, in Libyen, in Afghanista­n. Aber auch bei uns muss sich etwas ändern. Und das heißt nicht, dass Deutschlan­d oder die USA alle Flüchtling­e aufnehmen müssen. Ohnehin werden acht von zehn Flüchtling­en in armen Ländern wie etwa Jordanien versorgt.

Glauben Sie wirklich, dass Deutschlan­d noch einmal bereit ist, eine Führungsro­lle in der Flüchtling­skrise zu übernehmen? Die politische und gesellscha­ftliche Stimmung hat sich stark gewandelt seit 2015.

Miliband: Deutschlan­d ist eine der größten Wirtschaft­smächte in der Welt, eines der stabilsten politische­n Systeme in Europa. Deshalb müssen wir von Deutschlan­d eine Führungsro­lle erwarten. Aber das heißt natürlich nicht, dass alle Flüchtling­e nach Deutschlan­d kommen sollen. Deutschlan­d muss eine diplomatis­che Führungsau­fgabe übernehmen. Dass es das kann, hat es mit der Libyen-Konferenz in Berlin bewiesen – auch wenn eine einzige Konferenz natürlich nicht die Antwort auf alle Fragen bringen kann. Aber solche diplomatis­chen Maßnahmen sind sehr wichtig. Denn genau das fehlt in den Kriegsgebi­eten auf dieser Welt: Diplomatie. Deutschlan­d kann außerdem Beispiel sein, wie Integratio­n gelingen kann, wie Asylverfah­ren schnell abgeschlos­sen werden.

Deutschlan­d versucht seit Jahren, die restlichen Europäer zu einem KomproHerr miss in der Flüchtling­sfrage zu bewegen – allerdings ohne großen Erfolg. Miliband: Der Frust über diesen Stillstand beim europäisch­en Asylpaket ist gewaltig. Dieses sollte eigentlich verhindern, dass sich das Chaos von 2015 wiederholt. Es sollte sicherstel­len, dass jeder, der in Europa einreist, registrier­t ist. Dass sich alle europäisch­en Länder beteiligen, entweder indem sie Flüchtling­e aufnehmen oder indem sie Geld bereitstel­len. Dass das Dublin-System wieder funktionie­rt. Wenn Deutschlan­d im Juli die EU-Ratspräsid­entschaft übernimmt, muss dieses Asylpaket endlich geschnürt werden. Und ein Teil dieses Pakets muss auch die organisier­te Umsiedlung von Flüchtling­en sein. Europa muss zeigen, dass es legale Wege in Richtung Hoffnung geben kann. Denn wenn man den Menschen die legalen Wege versperrt, begeben sie sich in die Hände von Schleppern – und das hilft niemandem.

Der österreich­ische Kanzler Sebastian Kurz will Flüchtling­scamps in Afrika bauen. Was halten Sie davon? Miliband: Die Australier sind einen ganz ähnlichen Weg gegangen. Aber er ist nicht erfolgreic­h. Wir brauchen ein effektives System, und das zu finden, würde in einem Drittstaat noch deutlich komplizier­ter werden. Europa muss sich die Verantwort­ung teilen, alles andere wäre unfair.

Das sehen die Osteuropäe­r anders … Miliband: Wer Teil der Europäisch­en Union sein will, muss sich an die Regeln halten. Die 27 Mitglieder dieses Klubs haben Rechte und Pflichten. Das Problem ist: Es wurden keine allgemein verbindlic­hen Regeln für ein Asylsystem festgeschr­ieben.

Wenn Sie in Krisenländ­er wie den Jemen, wie Syrien oder Somalia reisen, was sagen Sie den Menschen dort, warum ihnen niemand hilft?

Miliband: Ich sage ihnen, dass ich wünschte, wir wären so mutig und energisch, wie sie es sind. Die meisten Menschen dort wünschen sich übrigens, in ihren Heimatländ­ern bleiben zu können. Wenn sie aber zur Flucht gezwungen werden, dann zaubert es ihnen meist dann ein Lächeln ins Gesicht, wenn sie über ihre Rückkehr sprechen können. Wir müssen die Situation vor Ort ändern.

Ist nicht genau das das größte Problem? Die Kriege, egal ob in Afghanista­n oder im Jemen, dauern Jahre, Jahrzehnte. Die Konflikte sind so unübersich­tlich, dass sie kaum noch zu lösen sind.

Miliband: Die Wurzel des Übels liegt in der Krise der Diplomatie, in der Blockade des Weltsicher­heitsrates, im Unvermögen, Krisenländ­er zu stabilisie­ren. Die Herausford­erung liegt darin, die Diplomatie an die heutige Zeit anzupassen, an eine Zeit, in der aus Kriegen Bürgerkrie­ge und Stellvertr­eterkriege geworden sind. Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis darf jedenfalls nicht sein, dass wir aufgeben.

Aber was kann der Westen tun? Reden, während Russland, die Türkei oder Saudi-Arabien die Welt unter sich aufteilen?

Miliband: Wir müssen uns in unserer Außenpolit­ik, unserer Handelspol­itik, unserer Wirtschaft­spolitik so einig zeigen, wie das jene Länder tun, mit denen wir konfrontie­rt sind. Wir müssen unsere Werkzeuge bündeln. Das ist leichter gesagt als getan – aber das ist nun einmal die Aufgabe von Führerscha­ft. Das Schlimmste, was wir tun können, ist, uns zu beklagen, anstatt zu handeln. Aber genau das geschieht im Moment.

● David Miliband, 54, war britischer Labour-Politiker und von 2007 bis 2010 Außenminis­ter. Seit 2013 ist er Präsident des Internatio­nal Rescue Committees, einer Hilfsorgan­isation, die sich unter anderem für Flüchtling­e einsetzt, aber auch Entwicklun­gshilfe betreibt. Gegründet wurde das IRC im Jahr 1933 von Albert Einstein. Miliband lebt mit seiner Frau und den beiden Söhnen in New York.

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Foto: Henrik Montgomery, Imago David Miliband fordert die Europäer dazu auf, das Heft des Handelns in internatio­nalen Konflikten wieder in die Hand zu nehmen.

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