Der neue Nachbar
„Aha, das ist wohl mein neuer Nachbar.“Gabrielle stand am Fenster ihrer Küche, ein Tasse dampfenden Kaffee in ihren schmalen Händen, und sah interessiert zur gegenüberliegenden frisch renovierten Villa. Zwischen all den herausgeputzten Gründerzeitvillen machte sich Gabrielles Häuschen mittlerweile wie ein Stiefkind aus. Mindestens einmal in der Woche lag der Brief eines Immobilienmaklers im Briefkasten, der sie fragte, ob sie nicht verkaufen wolle. Als ob sie je ihr kleines Paradies verlassen würde. Gabrielle beobachtete den neuen Nachbarn, der gerade seinen silberfarbenen SUV auslud. Typisch. Wieder so ein Lackaffe mit umweltverschmutzendem Angeberwagen. War sie eigentlich die einzige Fahrradfahrerin in dieser Straße? Sie sah auf die Uhr: Oh nein, sie hatte die Zeit vergessen. Ihr Professor erwartete sie in zwanzig Minuten, um über ihre Habilitationsschrift zu sprechen. „Die 200 Strophen der Nachtigall in ihren Variationen.“Die Begrüßung des Nachbars musste warten. Sie zog sich ihren alten Wollmantel über, schwang sich auf ihr Fahrrad und sauste los. Aus den Augenwinkeln sah sie noch, wie der neue Nachbar winkte. Nein, sie hatte nun wirklich keine Zeit. Wenige Minuten später bog sie auf dem Innenhof der Universität ein. Direkt hinter ihr fuhr ein silbergrauer SUV auf den Parkplatz ein, aber Gabrielle hastete da schon die Treppen hinauf. Als sie eine Stunde später den Besprechungsraum verließ, traf sie auf dem Flur ihre Kollegin Susanne. „Du, da hat vorhin jemand die Dame im Wollmantel gesucht, ein neuer Verehrer?“„Du weißt doch, ich liebe nur Nachtigallen“, lachte Gabrielle. „Hat er gesagt, was er wollte?“„Nein“, sagte Susanne, „er hat behauptet, er müsse dich persönlich sprechen.“Den Tag über vergaß Gabrielle den mysteriösen Unbekannten. Erst als sie abends zu Hause ihr Fahrrad abstellte, fiel er ihr wieder ein: Wer das wohl gewesen war… „Hallo“, rief jemand von der Straße. Gabrielle erschrak. Direkt vor ihr stieg der neue Nachbar aus dem Auto. Der hatte es ja wichtig. „Ich habe Sie gar nicht kommen gehört“, sagte Gabrielle. „Ja, das sind diese leisen Elektroautos.“Er zog ein Handy aus der Tasche. „Das ist wohl Ihres. Es ist Ihnen heute Morgen aus der Tasche gefallen, haben Sie es nicht vermisst?“– „Nein“, sagte Gabrielle, „ach, waren Sie das etwa auch heute in der Universität?“– „Ja, aber ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt, mein Name ist Nachtigall, Alexander Nachtigall.“