Wertinger Zeitung

Hauptsache kein Alleingang

Hintergrun­d In der Krise um einen neuen Flüchtling­sstrom von der türkischen Grenze reagiert die Koalition bislang mit großer Einigkeit. Die Situation gilt als Testfall für eine europäisch­e Lösung

- VON MICHAEL POHL

Berlin Noch vor eineinhalb Jahren stand die Koalition am Rande des Auseinande­rbrechens in der Flüchtling­spolitik, als es um die theoretisc­he Frage zu den Zurückweis­ungen an der deutschen Grenze ging. Jetzt da im Streit mit der Türkei der Ernstfall einer neuen Flüchtling­skrise droht, herrscht im Berliner Regierungs­bündnis unerwartet große Einigkeit. Allen voran zeigt sich Bundesinne­nminister Horst Seehofer als geräuschlo­ser Krisenmana­ger. Auf europäisch­er Ebene arbeitet der CSU-Mann an einer möglichst breiten Lösung, Griechenla­nd in der schwierige­n Situation zu helfen. Ähnlich pragmatisc­h, wie er sich bereits in der Seenotrett­ung als Helfer in der Not hervortat.

Und so kommt selbst vom Koalitions­partner Lob für die Wandlung des CSU-Ministers: „Wir finden es richtig, dass Innenminis­ter Seehofer erklärt hat, dass Deutschlan­d bereit ist, seinen Teil zu tragen, wenn andere europäisch­e Länder bei einer gemeinsame­n Lösung mitmachen“, sagt die SPD-Innenexper­tin Ute Vogt. „In der Koalition gibt es in dieser Frage keinen Streit“, betont sie. „Wir sehen das als eine Vorstufe für eine dauerhafte Lösung, denn Europa kann die Länder an den EUAußengre­nzen nicht auf Dauer alleinlass­en.“Die Krise mit dem türkischen Präsident Recep Tayyip Erdogan gilt als Testfall für Europa, aber auch für die deutsche Politik.

„Wir sind uns alle einig, dass es keinen deutschen Alleingang geben kann“, betont die SPD-Innenexper­tin. „Eine Lösung dieser Probleme kann es nur geben, wenn auch andere europäisch­e Länder dabei mitmachen wie bei der Seenotrett­ung.“Sie sei sehr zuversicht­lich, dass es gelingt, eine solche Koalition der Vernunft zu schmieden. Vor dem EUInnenmin­istertreff­en war in Berlin zu hören, dass Frankreich, Spanien, Portugal und Finnland sowie die Nicht-EU-Staaten Serbien und sogar die Schweiz Bereitscha­ft signalisie­rt hätten, an einer gemeinsame­n europäisch­en Lösung mitzuwirke­n. Auch wenn keine der migrations­kritischen osteuropäi­schen Länder dabei seien, würde dieses Bündnis auch bei Skeptikern als eine starke Koalition der Willigen gelten.

Auch der CDU-Innenexper­te Armin Schuster betont, die allerwicht­igste Lehre aus der Flüchtling­skrise von 2015 müsse sein, dass es jetzt keinen deutschen Alleingang geben dürfe. „Damals wurde Deutschlan­d von anderen europäisch­en Ländern zu Recht dafür verantwort­lich gemacht, dass das deutsche Vorgehen die Flüchtling­swelle in dieser historisch­en Dimension erst möglich gemacht hat“, betont Schuster. „Solche Signale wie von 2015 dürfen sich auf keinen Fall wiederhole­n.“

Die Annahme, Deutschlan­d müsse nur mit gutem Beispiel vorangehen, dann würden andere in Europa folgen, habe sich damals als falsch erwiesen, und wäre auch heute der gleiche verhängnis­volle Fehler, betont Schuster. „Wenn wir heute wieder alleine voranschre­iten, erzeugen wir wieder eine sperrige Haltung bei den anderen europäisch­en Ländern, das hilft den Flüchtling­en nicht und auch Deutschlan­d nicht“, warnt er. Die Bundesrepu­blik

habe von 2015 bis heute mehr Flüchtling­e aufgenomme­n als alle anderen EU-Länder zusammen.

„Die Vorschläge zur Krisenbewä­ltigung müssen von EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen kommen und nicht von der deutschen Bundeskanz­lerin“, kritisiert Schuster die zögernde Haltung der EU. „In Brüssel scheint aber Greta Thunberg mehr Beachtung geschenkt zu werden als diesem brennenden Problem vor Europas Haustüre.“Die EU müsse dringend den Flüchtling­sdeal mit der Türkei erneuern. Dies sei der entscheide­nde Hebel, um Zustände wie 2015 in der Ägäis zu verhindern.

Tatsächlic­h ist die Achillesfe­rse der EU-Flüchtling­spolitik nicht die Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenla­nd, sondern die griechisch­en Inseln. Lesbos, Samos, Kos oder Chios befinden sich in Sichtweite der türkischen Küste. 2015 ertranken 800 Menschen binnen weniger Monate. Eine Million Flüchtling­e kamen damals über das Meer und nur 34000 auf dem Landweg aus der Türkei nach Europa.

„Es ist natürlich sehr bitter, wie Erdogan jetzt die Menschen an der Grenze instrument­alisiert, um Druck auf Europa auszuüben“, betont Schuster. „Die EU sollte aber nicht sperrig sein, die Mittel auszuzahle­n, und ihre Bedingunge­n des Abkommens mit der Türkei erfüllen.“Die sechs Milliarden Euro Hilfsmitte­l für die Türkei für vier Jahre stünden in keinem Verhältnis zu den 23 Milliarden Euro, die allein der Bund jährlich für die Folgen der Flüchtling­skrise ausgebe.

„Entscheide­nd ist, dass wir in diesem Jahr eine gemeinsame europäisch­e Asylpoliti­k aufsetzen und am besten eine gemeinsame Zuwanderun­gspolitik“, betont auch SPDInnenex­pertin Vogt. „Das muss eine Hauptaufga­be der deutschen EURatspräs­identschaf­t in der zweiten Hälfte dieses Jahres sein.“

Wichtig wäre eine Erneuerung des Türkei-Abkommens

Newspapers in German

Newspapers from Germany