Hauptsache kein Alleingang
Hintergrund In der Krise um einen neuen Flüchtlingsstrom von der türkischen Grenze reagiert die Koalition bislang mit großer Einigkeit. Die Situation gilt als Testfall für eine europäische Lösung
Berlin Noch vor eineinhalb Jahren stand die Koalition am Rande des Auseinanderbrechens in der Flüchtlingspolitik, als es um die theoretische Frage zu den Zurückweisungen an der deutschen Grenze ging. Jetzt da im Streit mit der Türkei der Ernstfall einer neuen Flüchtlingskrise droht, herrscht im Berliner Regierungsbündnis unerwartet große Einigkeit. Allen voran zeigt sich Bundesinnenminister Horst Seehofer als geräuschloser Krisenmanager. Auf europäischer Ebene arbeitet der CSU-Mann an einer möglichst breiten Lösung, Griechenland in der schwierigen Situation zu helfen. Ähnlich pragmatisch, wie er sich bereits in der Seenotrettung als Helfer in der Not hervortat.
Und so kommt selbst vom Koalitionspartner Lob für die Wandlung des CSU-Ministers: „Wir finden es richtig, dass Innenminister Seehofer erklärt hat, dass Deutschland bereit ist, seinen Teil zu tragen, wenn andere europäische Länder bei einer gemeinsamen Lösung mitmachen“, sagt die SPD-Innenexpertin Ute Vogt. „In der Koalition gibt es in dieser Frage keinen Streit“, betont sie. „Wir sehen das als eine Vorstufe für eine dauerhafte Lösung, denn Europa kann die Länder an den EUAußengrenzen nicht auf Dauer alleinlassen.“Die Krise mit dem türkischen Präsident Recep Tayyip Erdogan gilt als Testfall für Europa, aber auch für die deutsche Politik.
„Wir sind uns alle einig, dass es keinen deutschen Alleingang geben kann“, betont die SPD-Innenexpertin. „Eine Lösung dieser Probleme kann es nur geben, wenn auch andere europäische Länder dabei mitmachen wie bei der Seenotrettung.“Sie sei sehr zuversichtlich, dass es gelingt, eine solche Koalition der Vernunft zu schmieden. Vor dem EUInnenministertreffen war in Berlin zu hören, dass Frankreich, Spanien, Portugal und Finnland sowie die Nicht-EU-Staaten Serbien und sogar die Schweiz Bereitschaft signalisiert hätten, an einer gemeinsamen europäischen Lösung mitzuwirken. Auch wenn keine der migrationskritischen osteuropäischen Länder dabei seien, würde dieses Bündnis auch bei Skeptikern als eine starke Koalition der Willigen gelten.
Auch der CDU-Innenexperte Armin Schuster betont, die allerwichtigste Lehre aus der Flüchtlingskrise von 2015 müsse sein, dass es jetzt keinen deutschen Alleingang geben dürfe. „Damals wurde Deutschland von anderen europäischen Ländern zu Recht dafür verantwortlich gemacht, dass das deutsche Vorgehen die Flüchtlingswelle in dieser historischen Dimension erst möglich gemacht hat“, betont Schuster. „Solche Signale wie von 2015 dürfen sich auf keinen Fall wiederholen.“
Die Annahme, Deutschland müsse nur mit gutem Beispiel vorangehen, dann würden andere in Europa folgen, habe sich damals als falsch erwiesen, und wäre auch heute der gleiche verhängnisvolle Fehler, betont Schuster. „Wenn wir heute wieder alleine voranschreiten, erzeugen wir wieder eine sperrige Haltung bei den anderen europäischen Ländern, das hilft den Flüchtlingen nicht und auch Deutschland nicht“, warnt er. Die Bundesrepublik
habe von 2015 bis heute mehr Flüchtlinge aufgenommen als alle anderen EU-Länder zusammen.
„Die Vorschläge zur Krisenbewältigung müssen von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kommen und nicht von der deutschen Bundeskanzlerin“, kritisiert Schuster die zögernde Haltung der EU. „In Brüssel scheint aber Greta Thunberg mehr Beachtung geschenkt zu werden als diesem brennenden Problem vor Europas Haustüre.“Die EU müsse dringend den Flüchtlingsdeal mit der Türkei erneuern. Dies sei der entscheidende Hebel, um Zustände wie 2015 in der Ägäis zu verhindern.
Tatsächlich ist die Achillesferse der EU-Flüchtlingspolitik nicht die Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland, sondern die griechischen Inseln. Lesbos, Samos, Kos oder Chios befinden sich in Sichtweite der türkischen Küste. 2015 ertranken 800 Menschen binnen weniger Monate. Eine Million Flüchtlinge kamen damals über das Meer und nur 34000 auf dem Landweg aus der Türkei nach Europa.
„Es ist natürlich sehr bitter, wie Erdogan jetzt die Menschen an der Grenze instrumentalisiert, um Druck auf Europa auszuüben“, betont Schuster. „Die EU sollte aber nicht sperrig sein, die Mittel auszuzahlen, und ihre Bedingungen des Abkommens mit der Türkei erfüllen.“Die sechs Milliarden Euro Hilfsmittel für die Türkei für vier Jahre stünden in keinem Verhältnis zu den 23 Milliarden Euro, die allein der Bund jährlich für die Folgen der Flüchtlingskrise ausgebe.
„Entscheidend ist, dass wir in diesem Jahr eine gemeinsame europäische Asylpolitik aufsetzen und am besten eine gemeinsame Zuwanderungspolitik“, betont auch SPDInnenexpertin Vogt. „Das muss eine Hauptaufgabe der deutschen EURatspräsidentschaft in der zweiten Hälfte dieses Jahres sein.“
Wichtig wäre eine Erneuerung des Türkei-Abkommens