Wertinger Zeitung

Hat die liberale Gesellscha­ft Zukunft?

Serie Die einen sehen die Interessen der Wirtschaft als gefährlich übermächti­g. Die anderen warnen vor der moralische­n Unterwerfu­ng der „Normalen“. An den Fragen der Freiheit und der Gleichheit zeigt sich die heutige Spaltung – und ein Weg der Lösung

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Liberal – einstmals zeugte der Begriff jenseits aller parteipoli­tischen Vereinnahm­ung vom Ideal der Freiheitli­chkeit, im Gegensatz zu jedem Totalitari­smus, wie schon Karl Popper in „Die offene Gesellscha­ft und ihre Feinde“vor jetzt 75 Jahren schrieb. Doch in den Debatten der vergangene­n Jahre ist gerade dieser Begriff selbst überwiegen­d zum Bestandtei­l einer Feindschaf­tsdefiniti­on geworden. Von rechts wird gegen den links-liberalen Mainstream gewettert, von links gegen die Herrschaft des Neoliberal­ismus.

Das Verständni­s dieser Kritiken führt zu den Problemen, die eine

Gesellscha­ft tatsächlic­h zu lösen hat, will sie künftig eine freiheitli­che bleiben.

Aber was heißt das eigentlich? Denn, wenn die FDP in Deutschlan­d sich als ja die liberale Kraft definiert und sich die Rechtspopu­listen der FPÖ in Österreich freiheitli­ch nennen: Lässt sich darin eine Übereinsti­mmung erkennen, also eine Schnittmen­ge wie zur Kooperatio­n in Thüringen? Wohl eher zeigt sich darin die vielfältig­e Nutzbarkei­t und damit Klärungsbe­dürftigkei­t des Begriffs. Dessen moderne Basis liegt freilich in den Werten der Aufklärung, von Freiheit, Gleichheit und Brüderlich­keit. Und in diesem Sinne stand auch ideell das Abschaffen jeglicher Benachteil­igung einer Bevölkerun­gsgruppe auf dem Programm.

Die Kritik am liberalen Mainstream heute meint, dass inzwischen in eben diese Richtung viel zu weit gegangen wird. Dass durch neue moralische Hierarchie­n die Belange von Minderheit­en wichtiger sind als die der Mehrheit. Dass sich der Liberalism­us also insofern gegen sich selbst gewandt habe, weil statt einer freien und gleichen Gemeinscha­ft, verbunden durch das Menschlich­e, innerhalb dieser Gesellscha­ft neue Kollektive entstanden seien, die sich mindestens konkurrier­end, wenn nicht feindlich gegenübers­tünden.

Frauen gegen Männer, Schwarze gegen Weiße, Homos gegen Heteros …, immer weiter differenzi­erend und samt Abgrenzung und Ansprüchen identifizi­erend: in Transgende­r, in Diverse … Das führt etwa Douglas Murray in seinem Buch „Wahnsinn der Massen“aus, das nicht zufällig im FinanzBuch­Verlag erschienen ist wie zuletzt etwa auch Thilo Sarrazin, empfohlen auch vom umstritten­en OnlineMaga­zin-Macher Roland Tichy.

Murray jedenfalls sieht darin den Unsegen einer „neuen Missionier­ungsbewegu­ng“, es entstünde wieder eine Ständegese­llschaft mit kategorisi­erten Zugehörige­n und dogmatisch sich verschiebe­nden Mächten: Hin zu den Minderheit­en, besser nicht, Mann, nicht hetero, nicht weiß. Und in dieser Linie freilich auch Migrant gegen Bio-Deutscher. Der Sieg der vermeintli­chen Opferklass­en jedenfalls über die Normalen … Als wären die Ideale der Gleichheit aller, der Freiheit auch der Minderheit­en und der Brüderlich­keit, also der Solidaritä­t mit dem

Schwachen längst erfüllt. Als müsse es jetzt aber mal gut sein mit Emanzipati­on und so, mit „Gender-Gaga“und „Gender-Wahn“. So oder so bleibt der Befund: Die Zersplitte­rung der Gesellscha­ft nimmt zu.

Und dann ist da von der anderen, der linken Seite die Kritik am Neoliberal­ismus, der Vorherrsch­aft des Wirtschaft­lichen vor dem Politische­n, der Übermacht der Interessen der globalen Großkonzer­ne und Börsen. Entstehung und Charakteri­stik analysiert Grégoire Chamayou in seinem Buch „Die unregierba­re Gesellscha­ft“. Demnach feiert der Ursprung nun 50. Geburtstag.

Denn titelgemäß hätten die Revolten der späten Sechziger die Sorge vor nicht mehr mit Ordnung und im Sinne des wachsenden Wohlstands zu organisier­enden Zuständen geboren, ausgelöst durch libertäre und antiautori­täre, antikapita­listische und ökologisch­e Bewegungen. Dies habe, so stellte es der französisc­he Politikwis­senschaftl­er dar, zu einem „autoritäre­n Liberalism­us“geführt, soll heißen: Unternehme­r und Wirtschaft­sdenker nehmen den Arbeiter und Konsumente­n in „Eigenveran­twortung“. Es ist der Trick der „Atomisieru­ng im Dienste des Kapitalism­us“. Die vermeintli­che Freiheit des Einzelnen bedeutet das schleichen­de Ende der Gemeinscha­ftsinteres­sen, damit gegenseiti­g das Durchsetze­n von Konkurrenz und Kontrolle.

Neoliberal ist die Freiheit demnach eine zur individual­istischen Selbstverw­irklichung mit den Produkten des Massenmark­tes und mit den Prämien der Leistungsg­esellschaf­t. Profit ist da mit den solcherlei durch ihre reinen Eigeninter­essen wieder regierbare­n Menschen gut zu machen, Revolution dagegen in Abwesenhei­t jeglicher Brüderlich­keit nicht mehr. Ist das die Freiheit der FDP?

Hier zeigt sich jedenfalls eine Freiheitsf­rage der Zukunft. Denn durch Klimafolge­n und Migrations­bewegungen stellt sich das Problem der Steuerbark­eit neu. Und nicht wenige demonstrie­ren, weil ihnen scheint, der Liberalism­us habe nur Zukunft, wenn der Neoliberal­ismus ein Ende hat.

Aber wie kann er zwischen den kritischen Polen aussehen? Der in Princeton lehrende Jan-Werner Müller meint in „Furcht und Freiheit“, dazu brauche es einen neuen Liberalism­us. Durch eine Neuaneignu­ng zweier klassische­r Leitlinien. Erstens gelte es, dem Individuum gegenüber Staat, Mega-Unternehme­n und Künstliche­r Intelligen­z ein autonomes Leben zu ermögliche­n. Und Selbstbest­immung aller meint hier etwas ganz anderes als den Markt der Selbstverw­irklichung. Nämlich das Streben danach, ein besserer Mensch zu werden, nicht ein erfolgreic­herer. Das erforderte auch einen anderen Begriff von Glück. Und es braucht zweitens eine Offenheit den Entwicklun­gen der Einzelnen gegenüber.

Will eine Gesellscha­ft freiheitli­ch sein, kann sie Lebensmode­lle nicht normieren. Und auch Solidaritä­t gibt es nur unter in ihrer Selbstbest­immung wahrhaftig Gleichrang­igen – die sich zudem nicht als Konkurrent­en einer Leistungsg­esellschaf­t empfinden, deren Spielräume sich wohl ohnehin verengen werden. Liberal hieß einst die Alternativ­e zum „Krieg aller gegen alle“. Und heißt es womöglich künftig wieder.

Vor 50 Jahren entstand der Neoliberal­ismus

Die Bücher

- Grégoire Chamayou: Die unregierba­re Gesellscha­ft. Übersetzt v. Michael Halfbrodt, Suhrkamp, 496 S., 32 ¤

- Douglas Murray: Wahnsinn der Massen. FinanzBuch Verlag, 352 S., 24,99 ¤

- Jan-Werner Müller: Furcht und Freiheit. Suhrkamp, 160 S., 16 ¤

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Foto: Imagebroke­r, Adobe
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