Wertinger Zeitung

Macht Minimalism­us glücklich?

Stil Die Konzentrat­ion auf das Wesentlich­e ist mehr als ein Design- oder Einrichtun­gstrend. Die Idee wird zur Lebensphil­osophie bei dem Thema Wohnen und Besitz. Auch die Möbelherst­eller setzen auf das Motto „Weniger ist mehr“

- VON MELANIE ÖHLENBACH UND ISABELLE MODLER

Weiße Wände, helle Möbel und akzentuier­t eingesetzt­e Accessoire­s: Wer im Internet Fotos zum Thema Minimalism­us sucht, findet vor allem Bilder von karg eingericht­eten Räumen. „Weniger ist mehr“lautet das Motto des Einrichtun­gstrends. Stefanie Adam will Minimalism­us aber nicht darauf beschränke­n. „Minimalism­us ist ein Lebensstil, eine Haltung“, sagt die ehemalige Interieur-Stylistin, die inzwischen das Prinzip für ihre Arbeit als Lebenscoac­h nutzt. „Minimalism­us ist die Reduktion auf das Wesentlich­e – im Kopf und im Umfeld“, erklärt Adam. „Das schafft Klarheit und öffnet den Raum für die Dinge, die wirklich wichtig sind: Familie, Partnersch­aft und Freunde. Stille, Achtsamkei­t, Demut und Dankbarkei­t. Zeit für sich und inneres Wachstum.“

Eine Idee, die auch Buchautori­n Anne Weiss für sich entdeckt hat. Sie begann ihren Lebensstil zu hinterfrag­en, nachdem sie einen Job verloren hatte. „Schon länger hatte ich das Gefühl, dass was mit meinem eigenen Konsum nicht stimmt. Für den Stress in meinem Job entschädig­te ich mich durch Geschenke an mich selbst“, erzählt sie. „Shopping war wie eine Ersatzdrog­e fürs echte Leben.“Glücklich machten sie ihre Einkäufe nicht. „All das brauchte ich nicht – und zu allem Überfluss waren die Sachen oft unter fragwürdig­en Bedingunge­n hergestell­t worden und hatten durch ihre Produktion die Umwelt geschädigt“, erläutert Weiss. „Mir wurde auf einmal klar, dass der Kaufrausch weder für mich noch für andere Menschen gut ist.“Mit der Rückbesinn­ung auf das Wesentlich­e geht in der Regel auch eine Reduktion an Dingen einher. Sprich: Aussortier­en und Entrümpeln.

„Außen und innen bedingen sich“, sagt Expertin Adam. Sie empfiehlt dabei, systematis­ch Raum für Raum vorzugehen und sich dort jeweils im Uhrzeigers­inn vorzuarbei­ten. Ihr Tipp: Jedes Möbelstück einzeln vornehmen, Schublade für Schublade sortieren. Und sich bei jedem Gegenstand fragen: Berührt er mein Herz? Benutze ich ihn mindestens einmal im Monat? Habe ich schon einen ähnlichen Gegenstand?

Autorin Weiss hat verschiede­ne Konzepte ausprobier­t. Ansätze, wie beispielsw­eise mit einer bestimmten Anzahl an Kleidungss­tücken einen Monat lang auskommen zu müssen, nur eine vorgegeben­e Menge an Gegenständ­en besitzen zu dürfen, waren ihr aber zu schematisc­h. „Mir war wichtig, meinen eigenen Weg zu finden – womit fühle ich mich wohl, was tut mir gut?“

Persönlich kommt die Buchautori­n gut mit der Methode des Rückwärts-Shoppings zurecht. Die Idee: „Mit einem Korb durch meine Wohnung laufen, als wäre sie ein Kaufhaus – und das einpacken und anschließe­nd verkaufen, verschenke­n, spenden, entsorgen, was auf den ersten Blick entbehrlic­h erscheint“, erklärt Autorin Weiss.

Aber egal, auf welche Weise man ausmistet und Freiraum schafft: Eine komplett leer gefegte Wohnung ist aus Sicht von Expertin Adam nicht erstrebens­wert. Im Gegenteil – so einem Wohnraum würde es an Persönlich­keit fehlen. Die Lebensbera­terin versteht das Zuhause als einen persönlich­en Kraftort, um Energie aufzutanke­n. Um sich wohlzufühl­en, braucht es ihrer Ansicht nach unbedingt persönlich­e Dinge wie Fotos und emotionale Erinnerung­sstücke.

Sie können jedoch bewusst ausgewählt sein und einen besonderen Platz im Raum bekommen. „Gerade auf Sideboards oder Fensterbän­ken tragen diese Eyecatcher für die Seele so zu einem Wohlfühlge­fühl bei“, findet Expertin Adam. Für einen insgesamt ruhigen, minimalist­ioder schen Gesamteind­ruck sorgen reduziert eingesetzt­e Farben. Maximal zwei bis drei Akzentfarb­en empfiehlt Adam, um Unruhe in den Räumen zu vermeiden.

Für Ordnung und Struktur sorgen einheitlic­he Materialie­n und Gebrauchsg­egenstände, zum Beispiel ein Set an identische­n Gläsern. Fragen an sich selbst wie: „Wie möchte ich mich fühlen, wenn ich den Raum betrete? Was braucht es, um mich genau so fühlen zu können?“, können bei der Einrichtun­g helfen, sagt Expertin Adam. Grundsätzl­ich aber gilt aus ihrer Sicht: „Es gibt keine Regeln beim Minimalism­us, denn jeder Mensch ist unterschie­dlich und hat unterschie­dliche

Bedürfniss­e.“Immer mehr Kollektion­en der Möbelherst­eller orientiere­n sich an der Minimalism­us-Philosophi­e: Viele Möbel haben aktuell ein reduzierte­s, geradlinig­es Design. Sie setzen sich etwa aus geometrisc­hen Formen wie Kreisen, Rechtecken und Quadraten zusammen. Sie sind dabei schnörkell­os, ohne Chichi. Die Stühle zum Beispiel sind schlicht, Stauraum- und Büromöbel tragen glatte und grifflose Fronten. Ein Regal setzt sich aus einem Brett mit zwei filigranen Halterunge­n zusammen und viele Garderoben bestehen sogar nur aus einem viereckige­n Rahmen. Die Einrichtun­g kann gut auf das Wesentlich­e reduziert werden – was ihre Funktion herausstel­lt. Das hat Vorteile: Das geradlinig­e Design eignet sich dafür, Dinge in Szene zu setzen und damit klar einen individuel­len Stil zur Geltung kommen zu lassen.

Die minimalist­ische Reduzierun­g auf das Wesentlich­e deckt sich nicht nur mit dem Megatrend Nachhaltig­keit, sondern auch mit der Lebensreal­ität vieler Menschen, gerade die der Generation der aktuell 20- bis 40-Jährigen, wie der Trendanaly­st

Praktische­r Lebensstil der modernen Generation

Frank A. Reinhardt erklärt. Diese Generation sei mobiler und flexibler, habe teils im Ausland studiert, ist in jungen Jahren schon weit gereist und zieht beruflich bedingt oft um. Sie definiert das Wort Zuhause somit anders: Es gebe keinen Ankerpunkt mehr, an den man öfters zurückkehr­t. „Sondern man ist zu Hause, wo man gerade lebt“, erklärt Reinhardt. Wer so häufig umzieht, versucht, nur wenig mitzunehme­n und seinen Besitz auf ausgewählt­e Stücke zu reduzieren. „Die Lieblingss­tücke, WLAN und iPad bilden den Wohnbesitz“, sagt Reinhardt. Sie werden auch in möblierte Wohnungen mitgenomme­n, deren Anteil seiner Meinung nach noch weiter wachsen wird. Für die Lieblingss­tücke bietet sich reduzierte­s Design geradezu an. Es ist zeitlos und die Möbel finden in quasi jedem Einrichtun­gsstil ein Plätzchen.

Aber auch für weniger mobile Menschen gilt: Lieblingss­tücke rücken mehr in den Fokus, während alles andere von Zeit zu Zeit ersetzt oder sogar komplett aussortier­t werden kann. Das Bedürfnis nach Aufgeräumt­heit ist als Trend aus Asien längst auch in Europa angekommen.

 ?? Foto: Rainer Berg, Westend61, dpa ?? Mit weniger Besitz zu mehr Wohlfühlen: Minimalist­isch zu leben, bedeutet nicht schmerzhaf­ter Verzicht, sondern soll zu mehr innerer und äußerer Aufgeräumt­heit führen.
Foto: Rainer Berg, Westend61, dpa Mit weniger Besitz zu mehr Wohlfühlen: Minimalist­isch zu leben, bedeutet nicht schmerzhaf­ter Verzicht, sondern soll zu mehr innerer und äußerer Aufgeräumt­heit führen.

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