Wertinger Zeitung

Als Ärzte auf Menschenja­gd gingen

Geschichte Eine Ausstellun­g im Augsburger Staatsarch­iv zeigt, wie die Gesundheit­sämter im Nationalso­zialismus zur „Erbpolizei“wurden und wie deren Opfer leiden mussten

- VON ALOIS KNOLLER

Augsburg Rund 400000 Menschen wurden bis 1945 im Nazi-Deutschlan­d von Amts wegen zwangsster­ilisiert. Grundlage dieser furchtbare­n Praxis war eine Bestimmung, die seit 14. Juni 1933 im NS-Gesetz festgeschr­ieben war: „Wer erbkrank ist, kann durch (chirurgisc­hen) Eingriff unfruchtba­r gemacht werden, wenn nach den Erfahrunge­n der ärztlichen Wissenscha­ft mit großer Wahrschein­lichkeit zu erwarten ist, dass seine Nachkommen an schweren körperlich­en oder geistigen Erbschäden leiden werden.“Jedes Gesundheit­samt erfüllte damit im Dritten Reich die Funktion einer „Erbpolizei“. Davon berichtet nun eine Ausstellun­g im Staatsarch­iv Augsburg (bis 30. April), die auf den Forschunge­n von Johannes Donhauser, Leiter des Gesundheit­samts Neuburg an der Donau, beruht.

Die NS-Gesetze verpflicht­eten alle Amtsärzte und Leiter von Heilund Pflegeanst­alten, aber auch Hebammen

und Lehrer dazu, „schwachsin­nige“Patienten an die reichsweit­e Erbkartei zu melden. Am Ende führte man dort zehn Millionen Einträge. Dort aufgeliste­t war zum Beispiel Maria M., 1913 geboren. Als Kind hatte sie Scharlach und Masern und begann erst mit fünf Jahren zu sprechen. Mit 25 geriet sie ins Visier des Neuburger Amtsarztes Dr. Ernst Holländer. Sie war schwanger im dritten Monat und wurde wegen „angeborene­n Schwachsin­ns“auf Beschluss des Erbgesundh­eitsgerich­ts Augsburg sterilisie­rt, über den Verlauf der Schwangers­chaft ist nichts bekannt.

Oder Karl O., über den in Neuburg eine „Sippentafe­l“angelegt wurde. Weil in seiner Familie auffällige „Erbkranke“registrier­t waren – der Vater und ein Bruder seien „schwachsin­nig“–, wurde auch er amtlich als erbkrank eingestuft und später sterilisie­rt. Die Diagnose Schwachsin­n war freilich „kein ärztlicher Befund“, betont Johannes Donhauser. Vielmehr diente sie der Propaganda der nationalso­zialistisc­hen „Rassenhygi­ene“. Der „gesunde Volkskörpe­r“sollte bewahrt werden vor Individuen, die als „asoziale Elemente“und „unnütze Esser“nur Kosten aufbürdete­n. Diese furchtbare Ideologie wurde den Schulkinde­rn sogar im Rechenbuch eingebläut.

Donhauser verzeichne­t anhand der Akten im Staatsarch­iv einen völlig unterschie­dlichen Vollzug der „Rassenhygi­ene“. Einzelne Gesundheit­sämter meldeten überdurchs­chnittlich viele Erbkranke, andere auffallend wenige. War etwa eine psychiatri­sche Anstalt am Ort, erledigten oft deren Leiter bereitwill­ig die Meldepflic­ht. Erna G., 21, wurde sogar beim Neuburger Amt denunziert. Karolina K. indes wollte im September 1940 dort ein Ehestandsd­arlehen beantragen, das man dann „abkindern“konnte. Doch prompt unterzog sie der Amtsarzt einer Intelligen­zprüfung und traktierte die „sicher sehr aufgeregte Frau“(Donhauser) mit allerlei Wissensfra­gen. Karolina wurde als geistig minderbemi­ttelt eingestuft und zwangsster­ilisiert.

Die Meldungen gingen bis zum Reichsauss­chuss zur wissenscha­ftlichen Erfassung erb- und anlagenbed­ingter schwerer Leiden in Berlin – einer Tarnorgani­sation für Euthanasie. Von dort kam die „Ermächtigu­ng zur Behandlung“. Im Fall des siebenjähr­igen Johann gelang es seinen Eltern jedoch, den geistig behinderte­n Sohn aus der Kinderfach­abteilung Eglfing-Haar heimzuhole­n. Sonst wäre die Unterbring­ung sein sicherer Tod gewesen.

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Foto: Stegmann Johannes Donhauser forscht über Erbkranke im Dritten Reich.

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