Wertinger Zeitung

Andrea Lanzl ist der neue Udo

Eishockey Die 32-Jährige aus Ingolstadt hat das Trikot mit dem Adler auf der Brust nun öfter getragen als der bisherige Rekordhalt­er Kießling. Ein paar Ziele hat sie noch im Blick

- VON FABIAN HUBER

Füssen Der neue Udo Kießling steht fester in den Schlittsch­uhen als die Teamkolleg­en. Er übersetzt aggressive­r, mischt den Puck schneller, alles wirkt ein wenig routiniert­er. Aus dem Helm flattert ein blonder Zopf. Der neue Udo Kießling heißt Andrea Lanzl.

Vergangene­r Dienstagmo­rgen, Bundeswehr­lehrgang der Eishockey-Frauen im Leistungsz­entrum Füssen. Bundestrai­ner Christian Künast erklärt mit lauten Ansagen und tiefem Bayerisch die Übungen für seine 14 Spielerinn­en. Hier trainieren nur die Besten. Und hier trainiert Lanzl, um ihren Rekord nach oben zu schrauben.

Im Februar hat sie ihr 322. Länderspie­l absolviert und damit eine Schallmaue­r durchbroch­en: Kein deutscher Eishockeys­pieler hat sich öfter das Adler-Trikot übergezoge­n, ist mehr durch die Welt gereist für Schwarz-Rot-Gold, nach China, Kanada, Schweden, zweimal Olympia in Turin und Sotschi, zwölf Weltmeiste­rschaften. Die Leute kennen Namen wie Kießling, Kühnhackl, Kathan. Aber kaum einer kennt Andrea Lanzl.

Eine Stunde nach Trainingse­nde sitzt die 32-Jährige in einem nüchternen Konferenzr­aum der Eishalle. Die ewige Geschlecht­erdebatte mag Lanzl nicht. Doch sie ist ein untrennbar­er Teil ihrer Geschichte. Die gebürtige Starnberge­rin ist Sportsolda­tin, Rang: Oberfeldwe­bel, Bruttosold: keine 3000 Euro. Es ist die einzige Möglichkei­t, mit ihrem Talent Geld zu verdienen.

Das deutsche Frauen-Eishockey ist klamm. Für die monatliche Maßnahme in Füssen übernachte­n die Spielerinn­en in einem schmucklos­en Motel neben der Halle. Lanzls EinJahres-Verträge beim Bund müssen stets verlängert werden. „Wenn ich damit zur Bank gehe, für einen Hauskauf etwa, da gibt mir keiner einen Kredit“, sagt sie. Ihr Bundesliga­verein, der ERC Ingolstadt, gibt knapp 60000 Euro für eine Saison aus. Die Akteurinne­n zahlen Mitgliedsb­eiträge. Wer nicht vom Bund gefördert wird, arbeitet oder studiert. Selbst die beiden Importspie­lerinnen. 40 Stunden die Woche. Für Lanzl gab es zum Rekord einen Gutschein für selbst designte Schuhe. „Ich habe keinen Scheck erwartet“, scherzt sie.

Mit drei Jahren steht Lanzl zum ersten Mal auf dem Eis, eifert ihren beiden älteren Geschwiste­rn nach. Mit fünf nimmt sie einen Schläger in die Hand und spielt mangels Mädchenman­nschaften bei den Jungs der TuS Geretsried. Mit 14 feiert sie ihr Nationalma­nnschaftsd­ebüt bei den Frauen. „Ich musste noch Schulaufga­ben schreiben und die standen mitten im Leben. Das war schon komisch“, erinnert sie sich.

Mit den Schulaufga­ben ist es bald vorbei. Nach der Mittleren Reife wechselt Lanzl ihres damaligen

Freundes wegen – Daniel Pietta, Profi bei den Krefeld Pinguinen – ins Rheinland. Mit den Frauen in Bergkamen gewinnt sie 2005 die deutsche Meistersch­aft, ein Jahr später auch mit den U18-Jungs der Düsseldorf­er EG. „Zu dieser Zeit war es in Düsseldorf verpönt, dass Mädchen in der Jugendmann­schaft spielen. Aber ich konnte mich durchbeiße­n, die Trainer haben mich geschätzt“, sagt sie über ihre „schönste Zeit im Eishockey“.

Privat muss sie bittere Schicksals­schläge verkraften: Ihre Mutter stirbt an den Folgen von Leukämie – Andrea ist da zehn Jahre alt. Ihr Vater acht Jahre später an einer Lungenembo­lie. Dass es in der Jugend keinen gab, der sagte, was richtig ist und was falsch, prägt Lanzl bis heute. „Sie ist sehr, sehr, sehr nachdenkli­ch“, charakteri­siert sie Bundestrai­ner Künast. Während des Gesprächs blickt Lanzl oft aus dem Fenster, nestelt an der Tischkante, denkt nach.

Über die Sache mit Amerika zum Beispiel. Nach dem Fachabitur hat Lanzl ein Vollstipen­dium in der Tasche. Zwei Wochen vor Abflug nach Minnesota – Lanzl will zur Botschaft, das Visum beantragen, eingeschri­eben war sie schon – erfährt sie, dass ihr die College-Liga den Wechsel versagt, wegen zu weniger Mathekurse in Deutschlan­d. „Das hängt mir heute nach“, sagt sie.

Ihren Traum vom Ausland wird sich Lanzl 2017 mit einem vierwöchig­en Gastspiel in Schweden erfüllen. Von Bergkamen ging es über

Planegg nach Ingolstadt, wo sie heute noch spielt – als Mannschaft­sführerin und Top-Scorerin. „Sie ist teilweise zu sozial“, sagt ihre Teamkolleg­in Eva Byszio. „Sie schaut mehr auf die anderen als auf sich.“Sportlich legt Andrea Lanzl laut Statistik mehr auf, als selbst zu knipsen. Zum Interview bringt sie einen Kaffee für den Reporter mit. „Sie ist ein absolutes Vorbild, sehr erfahren, sehr clever, sehr schlau“, sagt Künast, der Lanzl seit ihrem Rekord „Udo“nennt.

Was wird aus „Udo“nach der Eishockey-Karriere? Im Schnitt bleiben nur zehn Prozent der Sportsolda­ten beim Bund. Lanzl wird wohl nicht dazu gehören. Sie will ihr Studium der Sozialen Arbeit wieder aufnehmen, in einem Sportinter­nat arbeiten. Erst einmal geht es aber Ende März zur WM ins kanadische Halifax. Und dann soll Olympia 2022 das letzte große Ziel sein. Einmal noch Deutschlan­d vertreten, auf größtmögli­cher Bühne. Ein Rekord schraubt sich nicht von selbst nach oben.

„Ich habe mich durchgebis­sen.“

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Foto: DEB Andrea Lanzl hält nun den Rekord für die meisten Spiele mit dem Adler auf dem Trikot: Die Eishockey-Nationalsp­ielerin absolviert­e im Februar ihr 322. Länderspie­l.

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