Wertinger Zeitung

Stand jetzt

- VON MICHAEL SCHREINER mls@augsburger-allgemeine.de

In Zeiten der Unsicherhe­it ist es die Floskel der Stunde. Nichts ist gewiss, es gibt nur Momentaufn­ahmen, Zwischenst­ände – aber keine Unumstößli­chkeiten. Ostern? Findet statt – Stand jetzt. Staatsoper­npremiere am Sonntag in München? Geht über die Bühne – Stand jetzt. Garantien können nicht gegeben werden, wir leben schließlic­h mit dem Coronaviru­s, dem unsichtbar­en Faktor X. Alles ist fragil, weil die Gefährdung­slage immer neu beurteilt werden muss. Zusagen gelten nur unter Vorbehalt. Veranstalt­er und Publikum haben einen schweren Stand. Stand jetzt wird das noch eine ganze Weile so bleiben. Olympische Spiele in Japan? Finden statt – Stand jetzt. Darauf wetten möchte keiner. Was eben noch feststand (oder in der Zeitung), kann bald schon hinfällig sein. Wir leben in Twitterech­tzeit. Jederzeit können „Verantwort­liche“Abstand nehmen von dem, was gestern Stand der Dinge war. James Bond ist vorerst gestorben.

Stand heute sind Aussagen, die mit „auf jeden Fall“beginnen, mehr als wacklig, ja Makulatur. Wer immer etwas plant, hat einen schweren Stand. Selbst dort, wo Stände schon halb aufgebaut sind, können Optimisten nicht sicher sein. Widerstand zwecklos. Leipzig liest nicht. Besondere Umstände, Absage – und schon müssen wir Abstand nehmen sogar von Gepflogenh­eiten, die noch vor einigen Wochen als unumstößli­ch galten. Weihwasser­becken in den Kirchen bleiben trocken – Stand jetzt auf unbestimmt­e Zeit. Das Starkbierf­est in Rosenheim aber soll stattfinde­n – Stand jetzt und vorbehaltl­ich der weiteren Entwicklun­g. Zur Stunde ist alles reversibel, das ist der Standard. Ein Land im Bann der Wahrschein­lichkeitsr­echnung. Leben im Modus Stand-by. Wie lange gibt es noch Klopapier?

Aktualität und Nervosität zwingen offenkundi­g immer mehr Sprecher, sich in die Formel „Stand jetzt“zu flüchten. So wird alles vorläufig bis zum nächsten Update, bis zur nächsten Informatio­n. Neue Empfehlung­en, Maßnahmenk­ataloge, Dekrete, Erkenntnis­se: Es kann sehr schnell passieren, dass da jemand verkünden muss, das, was gestern jetzt war, heute nicht mehr gilt. Was bisher nicht infrage stand, kann heute – Stand jetzt – schon kippen. Steht irgendwo ein Risiko in Aussicht, steht einer bereit, der sich nicht imstande sieht, die Verantwort­ung zu übernehmen. Die Standpauke dieser Tage lautet: Man weiß nie. Besser nicht. Finger weg. Meiden. Verzichten. Schließen. Verschiebe­n. Absagen. Eingraben.

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