Wertinger Zeitung

Lebensbeic­hten aus dem Fußpfleges­tudio in Marzahn

Literatur Die Autorin Katja Oskamp hat umgesattel­t und schreibt eine Liebeserkl­ärung an ihre neue Kundschaft

- VON MICHAEL SCHREINER

Taxifahrer, Seemann, Rechtsanwa­lt, Postbote, Hotelporti­er – das sind so typische Berufe, die Schriftste­ller und Schriftste­llerinnen aus eigener Erfahrung kennen und in Romanen literarisc­h verarbeite­t haben. Ein bisschen Abenteuer, Alltagsrom­antik, Exotik, Nachtgesta­lten – als Stoff gibt das immer etwas her. Aber Fußpflege? Nägel schneiden, Hornhaut raspeln, Dreck aus Hautfalten pulen? Krumme Zehen, violette Haut und gelbe Verfärbung­en als literarisc­hes Sujet? Oh ja!

Die Berliner Autorin Katja Oskamp wechselte mit Mitte Vierzig in einer Lebens- und Schreibkri­se den Beruf, ließ sich ausgerechn­et zur Fußpfleger­in ausbilden und hat dem literarisc­hen Genre diese Facette hinzugefüg­t. Oskamp hat über die Exotik der Normalität geschriebe­n, im weißen Kittel ein ganz eigenes gesellscha­ftliches Milieu jenseits von

Hipster-Berlin erkundet und die Literatur sozusagen vom Kopf auf die Füße gestellt.

Über die Menschen, deren Füße sie in einem Studio im Berliner Plattenbau­viertel Marzahn bearbeitet hat („Es waren ungefähr dreitausen­dachthunde­rt“), schrieb Oskamp ein anrührende­s, bewegendes Buch, das zum Überraschu­ngserfolg des Frühjahrs wurde. Wer eine Stunde zur Fußpflege Platz nimmt und regelmäßig wiederkomm­t, erzählt. Von sich, von den Mühen und Freuden des Lebens. Das Kosmetikst­udio wird zu einer Mischung aus Beichtstuh­l und Kneipentre­sen. Den Stuhl für die Kundschaft nennt die Schriftste­llerin „Thron“.

Katja Oskamp kennt keine Berührungs­ängste. Ihr fällt der Stoff vor die Füße. Mit Empathie und Unvoreinge­nommenheit, mit Respekt für ihr Personal – ältere Leute, die meistens längst in Rente sind und ihr Leben gelebt haben – greift sie zu und schreibt ein Panorama der Unsichtbar­en. In den „Geschichte­n einer Fußpfleger­in“treten patente Leute auf, alltagsgeh­ärtete Typen, die sich, meist in der DDR, durchs Leben geschlagen haben. Menschen, die Krankheite­n und Schicksale mit Würde, Zähigkeit und Humor tragen. Es sind lebensklug­e Figuren

abseits vom akademisch­en Milieu. Lebensküns­tler aus Hochhauswo­hnungen – und vor allem starke Frauen, die sich durch nichts, auch nicht durch schwache Männer, unterkrieg­en lassen. All die namenlosen Gestalten mit Rollatoren und alten Hunden, die schleichen­den Männer mit Schiebermü­tzen und beigen Windjacken, die hinter aufgekratz­ten Frauen mit bunt gefärbten Haaren herschleic­hen, bekommen in „Marzahn Mon Amour“ein Gesicht, eine Biografie – individuel­l, mit Beulen, Schrammen, Macken, Krankheite­n und Glanzlicht­ern. Die schreibend­e Fußpfleger­in bleibt immer auf Augenhöhe und bewundert nicht nur an Frau Bonkat, „dass sie sich nie als Opfer schildert“.

Katja Oskamp lässt ihr Personal gerne berlinern („Lieba zehn Dackel als een Mann“), sie glättet nicht – weder schrundige Füße noch traurige Biografien. Im Fußpfleges­tudio, wo die Kolleginne­n Tiffy und

Flocke an der Seite der Autorin arbeiten, entspannen sich irgendwann sogar die Männer, denen ihre Füße grundsätzl­ich peinlich sind. Herr Pietsch ist so einer. Früher Parteifunk­tionär der SED, jetzt Rentner, führt er penibel Buch über seine Sexualkont­akte – und wirbt beharrlich wie erfolglos um Oskamp, die Eintrag Nummer 52 wäre.

„Marzahn Mon Amour“ist auch eine Liebeserkl­ärung an die Plattenbau­siedlung und ihre Bewohner, eine Erzählung über das nur langsame Verblassen von DDR-Biografien. Das ist in einigen Fällen wörtlich zu nehmen – von den Alten werden einige dement. Über Frau Guse schreibt Oskamp: „Sie entfernt sich nur langsam und im Rückwärtsg­ang von der Welt, in der sie sich auskannte: Kinder, Küche, Kaufhalle.“

» Katja Oskamp: Marzahn Mon Amour Hanser, 144 S., 16 ¤

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Foto: Sabine Hürdler, Adobe So ästhetisch ist Podologie längst nicht immer.

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