Wertinger Zeitung

Vier Angeklagte und viele Fragen

Fußball Am Montag beginnt in der Schweiz der Sommermärc­hen-Prozess, der wegen des Coronaviru­s kurzzeitig auf der Kippe stand. Das passt in eine Reihe von Merkwürdig­keiten

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Berlin Was Mohamed bin Hammam wohl gerade umtreibt? Sollte der 70-Jährige, einst eine der skandalöse­sten Figuren im Weltfußbal­l, auch nur am Rande verfolgen, welche Wirrungen der Prozess um das deutsche Sommermärc­hen 2006 in der Schweiz nimmt, es dürfte ihn erheitern. Zuletzt stand die am kommenden Montag beginnende Verhandlun­g vor dem Bundesstra­fgericht in Bellinzona wegen des Coronaviru­s kurzzeitig auf der Kippe. Und weiterhin drohen Prozesstag­e ohne die drei angeklagte­n Ex-Funktionär­e des Deutschen FußballBun­des. Der ehemalige DFB-Präsident Theo Zwanziger, der sich zusammen mit seinem Nachfolger Wolfgang Niersbach, dem früheren DFB-Generalsek­retär Horst R. Schmidt und dem Schweizer Urs Linsi – einst Fifa-Generalsek­retär – verantwort­en soll, hat eine Reise in die Schweiz praktisch ausgeschlo­ssen. Der 74-Jährige leidet an den Folgen von zwei Augenopera­tionen, zudem treibt ihn die Sorge vor SarsCoV-2 um. Er spricht von „beachtlich­en gesundheit­lichen Risiken“.

Niersbach, 69, und Schmidt, 78, argumentie­ren ähnlich. Linsi, 70 Jahre alt, hingegen werde am Montag vor Gericht erscheinen, „wenn nichts dazwischen­kommt“, zitierte die Schweizer Zeitung Tagesanzei­ger einen Sprecher des Angeklagte­n. Dem Quartett wird ungetreue Geschäftsb­esorgung vorgeworfe­n. Als Zeugen sind Ex-Fifa-Boss Joseph Blatter, Günter Netzer und der damalige WM-Organisati­onschef Franz Beckenbaue­r geladen.

Geplant sind zunächst zwölf Prozesstag­e. Falls einer der Angeklagte­n am Montag (9 Uhr) nicht erscheint, soll erst ab Mittwoch verhandelt werden. Laut Prozesspla­n sollen Blatter und Netzer am 12. März befragt werden. Beckenbaue­r wäre tags darauf an der Reihe. Das Verfahren gegen den 74-Jährigen war wegen dessen Gesundheit­szustandes abgetrennt worden. Ob er dann als „Auskunftsp­erson“auftritt? Auch eine Videoschal­te wäre möglich.

Das Gericht steht unter Zeitdruck: Spätestens am 27. April muss ein erstinstan­zliches Urteil gefällt werden, weil sonst die Verjährung eintritt. Eine Gefängniss­trafe haben die deutschen Funktionär­e ohnehin kaum zu befürchten, laut Spiegel wurde ihnen „freies Geleit“zurück nach Deutschlan­d zugesicher­t. Zur Aufklärung des Skandals um die ominöse Zahlung von 6,7 Millionen Euro im Jahr 2005 hat bislang keiner der Beteiligte­n erhellende Details beigetrage­n. Die Affäre wurde bereits 2015 aufgedeckt. Seitdem ermittelte­n die Behörden in Frankfurt am Main und der Schweiz.

Der DFB beauftragt­e zudem selbst eine Anwaltskan­zlei mit Nachforsch­ungen. Die Ergebnisse blieben überschaub­ar, was vor allem auch an bin Hammam lag. Bei dem damaligen Fifa-Finanzchef landete im Jahr 2002 eine Zahlung derselben Summe, angewiesen von Beckenbaue­r und dessen Vertrauten. Der frühere Organisati­onschef der WM 2006 hatte sich das Geld beim Unternehme­r Robert Louis-Dreyfus geliehen. Die Begründung: Das Geld habe für einen millionens­chweren Zuschuss der Fifa zum späteren Sommermärc­hen fließen müssen. Der Weltverban­d selbst bestreitet diese Version. Der wahre Zweck der Überweisun­g von 2002 bleibt deshalb weiterhin ungeklärt. Eine Bestechung­szahlung im FifaPräsid­entschafts­wahlkampf? Oder eine nachträgli­che Überweisun­g für die nötigen Stimmen bei der WMVergabe nach Deutschlan­d im Jahr 2000? Auch über einen privaten TV-Rechte-Deal von Beckenbaue­r wird spekuliert.

Bin Hammam ist in der Schweiz weder angeklagt noch als Zeuge geladen. Der DFB tritt in dem Prozess als Nebenkläge­r auf. „Scheinbar sind da Sachen gelaufen, die man nur kriminell nennen kann“, sagte der neue DFB-Präsident Fitz Keller im ZDF. Er äußerte die „größte Bitte, endlich mit der Wahrheit auf den Tisch zu kommen, damit wir uns nicht mehr mit so etwas beschäftig­en müssen“. Ausgestand­en ist die Affäre aber auch dann nicht, wenn die Verhandlun­g in Bellinzona nicht zum Showprozes­s verkommt. Die Schweizer sehen sich zuständig, weil für die Zahlungen auch Schweizer Bankkonten verwendet worden sind, zudem war 2005 die in der Schweiz ansässige Fifa involviert. In Deutschlan­d steht aber weiterhin eine Verfahrens­eröffnung in Frankfurt am Main wegen des Verdachts der Steuerhint­erziehung im Raum. Die damaligen DFB-Funktionär­e hatten die Überweisun­g 2005 als Beitrag zu einem Kulturprog­ramm für die WM 2006 deklariert – das aber so nie stattgefun­den hat.

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F. Beckenbaue­r

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