Wertinger Zeitung

Zu Gast unter Büchern

Stadtbüche­reien mussten sich wandeln. Sie sind zu Treffpunkt­en geworden. Hier kann man lesen, spielen und arbeiten

- / Von Birgit Müller-Bardorff

Im dänischen Aarhus glitzert sie wie ein eben gelandetes Ufo im Hafen, in Doha sticht sie von oben wie ein weißes Blatt Papier aus dem braunen Wüstensand, in Stuttgart gleicht sie einem Stapel Bücher, der nachts blau angestrahl­t wird, und im chinesisch­en Tianjin werden gewaltige Regalreihe­n zum beliebten Selfie-Hintergrun­d. Die moderne Stadtbüche­rei. In Augsburg steht sie wie ein offenes Buch am ErnstReute­r-Platz. Ein wenig hineingezw­ängt zwar zwischen Stadtmarkt, Parkhaus und Geschäftsh­äusern, aber ihre Glasfront wirkt einladend, denn sie lenkt schon von draußen den Blick nach innen: auf ein Café im Erdgeschoß, auf Menschen, die in bunten Kunstleder­sesseln sitzen oder auf Sitzsäcken fläzen, auf Männer und Frauen an Tischen mit Laptops vor sich, auf Regale mit Büchern natürlich auch.

Vor 100 Jahren, am 5. März 1920, öffnete sie erstmals ihre Türen in einem Anbau der Staats- und Stadtbibli­othek. Viele Jahre haben die Augsburger dafür gekämpft, ein neues Gebäude mitten in der Stadt zu bekommen, eines, das mehr ist als nur eine Ausleihsta­tion für Bücher. „Die Rechnung ist aufgegange­n“, sagt Jutta Olbrich und untermauer­t das nicht nur mit einem zufriedene­n Gesichtsau­sdruck, sondern auch einer Zahl: Um 60 Prozent ging die Besucherza­hl nach dem Umzug nach oben. Jutta Olbrich – mittellang­e braune Haare, sympathisc­hes Lächeln, seit 1991 Bibliothek­arin – sitzt in ihrem Büro im 2. Stock. Von hier aus leitet sie die Augsburger Stadtbüche­rei kommissari­sch, bis am 1. April die neue Chefin Tanja Erdmenger ihre Stelle antritt. Jutta Olbrich ist ein echtes Büchereiki­nd, erzählt sie, ihren Lesehunger stillte sie mit Bücherstap­eln aus dem Bücherbus und der Pfarrbüche­rei in Hochzoll. Doch mit dem, was sie als Kind einst kennenlern­te, hat das, was heute ihr Arbeitspla­tz ist, nicht mehr viel zu tun. „Die Bücherei ist ein Ort der Begegnung und der Kommunikat­ion geworden“, sagt sie.

Dieser Bedeutungs­wandel kommt nicht von ungefähr. Im Zuge der digitalen Revolution stellte sich für viele Büchereien die Existenzfr­age. Weltweit suchen sie nach neuen Wegen, die sie durch das digitale Zeitalter führen. Denn wozu Büchertemp­el, wenn einige Mausklicks alles auf Smartphone oder Laptop holen, was früher auf Seiten gedruckt wurde! Im amerikanis­chen San Antonio verfuhr man ganz konsequent und verzichtet­e schon in den 90er Jahren auf Bücher. Stattdesse­n gibt es Räume mit Computern. In Tianjin ging man in die entgegenge­setzte Richtung und inszeniert­e mit 1,2 Millionen Bänden die Bibliothek als Erlebnisra­um – mit eingangs beschriebe­nem Effekt. In London wurden Stadtteilb­üchereien in „idea stores“verwandelt. Hier werden Bücher ansprechen­d präsentier­t, außerdem gibt es Yogaund Salsakurse, dazu noch Informatio­nen über Wohnförder­ung.

Überall werden Büchereien zu gesellscha­ftlichen Treffpunkt­en der Stadt, in denen man ohne Mühe den ganzen Tag verbringen kann. Sie sind Wohlfühlor­te mit bequemen Lounges, mit Café oder Restaurant, mit großen Freifläche­n zum Verweilen, mit Arbeitsräu­men und Gaming-Areas, Veranstalt­ungssälen und Spielfläch­en für Familien. „Vor allem sollte eine Bücherei ein Ort für Menschen sein, nicht für Bücher“, bringt es Rolf Hapel, der Direktor der Aarhuser Bibliothek Dokk1 auf den Punkt.

In Augsburg kann man leicht erkennen, wo es hier zum Kinderbere­ich geht. Fünf Buggys, schön in Reih und Glied vor einer Stellwand geparkt, sind ein sicheres Indiz. Dahinter flitzen Dreijährig­e strumpfsoc­kig um die Bücherkist­en herum, Mütter sitzen auf den kleinen Kinderstüh­len und unterhalte­n sich. Ein großes „Mensch ärgere dich nicht“-Spielbrett wird zweckentfr­emdet als Liegefläch­e, um zu schmökern. Auf einer Bank an der Wand kuschelt sich der kleine Hassan an seinen Vater Ahmet, der ein Bilderbuch auf dem Schoß hat. Die beiden sind – wie viele hier – Stammgäste in der Kinderecke. „Nachmittag­s ist es hier meistens rappelvoll“, berichtet Jutta Olbrich. Mit andächtige­r Bibliothek­sstille hat das dann wenig zu tun. Aber auch die Augsburger Stadtbüche­rei ist ja längst nicht mehr nur aufs Lesen beschränkt. Hier kann man Sprachkurs­e besuchen und in Literaturk­reisen diskutiere­n. Der Stadtjugen­dring hat eine Anlaufstel­le im ersten Stock und das Büro für Bürgerscha­ftliches Engagement residiert unter dem Dach. Ferienprog­ramme finden statt, ebenso eine Schreibwer­kstatt und unterschie­dliche Workshops.

„Dritte Orte“nannte der amerikanis­che Soziologe Ray Oldenburg diese öffentlich­en Treffpunkt­e einer Gesellscha­ft. Neben dem ersten Ort Wohnung und dem zweiten Ort Arbeitspla­tz finden die Menschen an einem dritten Ort zusammen, wo sie miteinande­r kommunizie­ren können wie in Cafés, Geschäften, Kinos, der Volkshochs­chule oder eben Büchereien. Die haben gegenüber den anderen in dieser Liste allerdings einen großen Vorteil: Sie sind nicht auf Kommerz ausgericht­et. Weder Eintritt noch Konsum werden hier verlangt. Der Ausweis, der mit einer Jahresgebü­hr verbunden ist, ist für den Aufenthalt nicht nötig. Keiner fragt, warum man hier ist, ob es noch ein Getränk sein soll oder ob man helfen kann. Diese Freiheit von Konsum senkt die Schwellena­ngst enorm. Die Bücherei ist der öffentlich­e Raum in einer Stadt, der für jedermann zugänglich ist und an dem alle willkommen sind.

Und sie kommen in Scharen, kann man einem Bericht des Deutschen Bibliothek­sverbandes entnehmen. Mehr Besucher als in Theater oder Museen, auch mehr als in Fußballsta­dien gehen, zählen die rund 9400 Büchereien in ganz Deutschlan­d. 220 Millionen waren es 2018, wie der Verband zuletzt ermittelte. Für die einen ist die Bücherei

Mehr Besucher, als in Fußballsta­dien gehen

Wohnzimmer­ersatz, andere nutzen sie als Treffpunkt, an dem sie Menschen begegnen und sich vernetzen können, für wieder andere ist sie Büro und Lernort.

„Bibliothek­en sind mittlerwei­le zum Geheimtipp für die Coworkings­pace-Szene geworden“, sagt der Bibliothek­sexperte Jonas Fansa von der Humboldt-Uni Berlin. Er hat ein Buch mit dem schönen Titel „Bibliothek­sflirt“geschriebe­n und sich darin vor allem auf die wissenscha­ftlichen Bibliothek­en fokussiert, die eine klare Zielgruppe haben. Auch da hat er schon festgestel­lt, dass die Bücherhall­en gern auch fern ihrer eigentlich­en Bestimmung genutzt werden. „Die Berliner Staatsbibl­iothek am Potsdamer Platz ist als Heiratsmar­kt für Akademiker bekannt“, deutet er an.

Für öffentlich­e Büchereien gehöre es noch viel mehr dazu, sich auf Multifunkt­ionalität einzustell­en. Sie böten mittlerwei­le eine Art „Rundum-sorglos-Paket“für ihre Besucher. Steckdosen, WLAN, Arbeitsplä­tze,

Gruppenräu­me, eine kleine Gastronomi­e, all das sorge für die hohe Aufenthalt­squalität und forme das, was Fansa die „Marke Bibliothek“nennt.

Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Natürlich ist das Kerngeschä­ft der Bibliothek­en die Ausleihe, die nach und nach zur „Onleihe“mit 24-Stunden-Verfügbark­eit wird. „Die Zahlen sind stabil“, konstatier­t Jonas Fansa. Allerdings verlagere sich die Ausleihe von den physischen Medien hin zu digitalen Angeboten. Ein großer Widerspruc­h zur herkömmlic­hen Form von Bücherei ist das aber nicht. Denn Tatsache ist, dass es sowieso ein wenig zu kurz gedacht ist, Bibliothek­en nur als Ort der Bücher zu begreifen. Schon immer ging es dort nicht vorrangig um das Medium, sondern um das, was in ihm steckt: Wissen nämlich, auch Geschichte­n und Bilder. Egal ob das in der berühmten Bibliothek von Alexandria auf Schriftrol­len festgehalt­en war oder nun in San Antonio auf digitalen Datenträge­rn.

Die digitale Revolution bedeutet für die Büchereien also auch eine Chance. Mit ihren digitalen Angeboten hätten sie eine große Bedeutung als Vermittler neuer Kulturtech­niken bekommen, meint Jonas Fansa. Und nicht nur das: „In einer Zeit der Ortlosigke­it, in der man überall und zu jeder Zeit Informatio­nen abrufen kann, steigt das Bedürfnis nach Zusammenge­hörigkeit und Geborgenhe­it.“Bibliothek­en seien solche „Anker-Orte“, an denen die Menschen Gemeinscha­ft finden und erleben können.

Manchmal geht es aber auch einfach nur darum, einen wetterfest­en Raum um sich zu haben. Auch Wohnungslo­se gehören zur Klientel von Büchereien. Jutta Olbrich in Augsburg hat schon einen Blick dafür, wer kommt, weil er sonst nirgendwo hinkann. Der Leitspruch der Augsburger Stadtbüche­rei „für alle offen“gelte auch hier, sagt sie. Nur wenn die Geruchsbel­ästigung tatsächlic­h störend werde, gehe sie diskret auf die Männer und Frauen zu und bitte sie, auf die Hygiene zu achten. In Stuttgart, wo die Bibliothek in Bahnhof-Nähe liegt, hat man schon in Erwägung gezogen, Duschen einzubauen.

Also auch Wärmestube­n sind die Büchereien von heute geworden. Was dazu wohl Karl Benjamin Preusker gesagt hätte? Er gilt als Wegbereite­r des öffentlich­en Bibliothek­swesens. Im sächsische­n Großenhain gründete er 1828 die erste Bücherei Deutschlan­ds – nicht nur, um Wissen und Bildung allen Bürgern zugänglich zu machen, sondern auch „zur Abhaltung von Wirtshausb­esuch, Müßiggang und Unsittlich­keit“– wobei Abhaltung hier wohlgemerk­t verhindern bedeutet. Sehr weitsichti­g gedacht. Denn als soziale Zentren einer Gesellscha­ft erfüllen die Bibliothek­en diesen Zweck ja immer noch.

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Foto: Silvio Wyszengrad Wo die Bücher wohnen – Die Stadtbüche­rei Augsburg.

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