Gefahr in jeder Kurve
Bov Bjerg Wenn der Vater mit dem Sohne… Ein Ausflug, bei dem einem bange wird: Lesen!
Wer steile Anstiege und Abgründe bewältigen möchte, muss Kurven nehmen. Serpentinen, die sich bergauf oder bergab winden. Im Roman „Serpentinen“von Bov Bjerg geht meist bergab, schraubt sich der Erzähler in engen Kurven hinab in eine düstere Familiengeschichte. Vom Schriftsteller gleich auf der ersten Seite auf drei Zeilen verknappt: „Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt. Pioniere. Ich war noch am Leben. Vor Angst schlief ich ein.“
Nein. Keine Wohlfühlliteratur also. Definitiv nicht. Auch kein melancholisch-trotzig-schöner Roman wie „Auerhaus“, der Bov Bjerg bekannt machte, monatelang auf der Bestsellerliste stand, mittlerweile Schullektüre und Filmstoff geworden ist. „Auerhaus“war, trotz aller Tragik, ein Buch zum Verlieben. „Serpentinen“ist, trotz komischer Momente, ein Buch zum Erschrecken. Eines, das einen direkt ans Herz fasst. Weil dieser Vater-SohnAusflug in die Heimat des Erzählers zwar vom Programm her idealtypisch aussieht: Wanderung durch Wald, Besuch einer Höhle, Besuch eines Museums – nein, Ammoniten sind keine Schnecken –, Besuch der Großmutter, Besuch eines alten Klassenkameraden, Besuch des Geburtshauses… Aber der Leser muss ums Überleben der beiden bangen. Der suizidale Vater setzt im Leihwagen zu gewagten Überholmanövern an. Nachts schaut er auf seinen schlafenden Sohn – das Kissen schon in der Hand.
Höppner heißt der Erzähler. Hieß er. So wie der Höppner aus „Auerhaus“. Auch an Frieder, der Freund, der sich das Leben nahm, wird erinnert. Aber dessen Grab ist längst aufgelassen. Und ohnehin ist der Roman nur zeitlich ein Nachkomme
von „Auerhaus“, inhaltlich aber eher ein dunklerer Verwandter. Dieser Höppner jedenfalls hat den Namen seiner Frau angenommen, weil er wie sein Sohn heißen möchte. Nicht mehr wie der Vater. Weil er sich gegen alles stemmt und kämpft, was man ihm zu Hause mitgegeben hat: Dialekt, längst abgelegt; das Familienbla, wiederkehrendes Gerede über die Familiengeschichte, durchschaut; die Armut, überwunden. Höppner ist ein saturierter Soziologieprofessor, Bildungsaufsteiger wie die Ehefrau, eine Juristin. Nach außen hin eine Vorzeigefamilie also.
Aber wie kann man seiner eigenen Geschichte entkommen? Eben jener, schon zitierten: „Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt.“Und wo will man eigentlich ankommen?
„Wir machen ganz schön viel zusammen“
Es gibt kein Ziel bei diesem Vater-Sohn-Ausflug. Nur ein Schlingern auf Kurven. Ein Umschlingern von Abgründen. „Um was geht es?“, fragt der Sohn immer wieder. „Um die Serpentinen. Es geht darum, sich in die Kurve zu legen.“
Um was geht es also? Wie man sich befreit. Ob das geht. Der Erzähler hat in Kalifornien einst eine Schulfreundin getroffen, Veronika, die von oben von der Alb kam, verspottet in der Schule, jetzt Chefin des Fünf-Sterne-Hotels. Er freute sich tagelang. „Veronika hatte sich befreien können von ihrem Vater, von ihrem Dorf und von Arschlöchern
wie mir.“Aber es kommt eben auch darauf an, wie tief man in der Geschichte steckt, aus der man herauskommen will. Was es für eine Geschichte ist. Der Vater also: Stuckateur, Trinker, NPD-Wähler, schizophren, depressiv, Selbstmörder. Der dem Sohn ein Gefühl von Schuld hinterließ. Er hat nicht genug aufgepasst. Der Strick, an dem sich der Vater im Bad aufknüpfte, hing danach wieder neben den Werkzeugen an der Wand. Die Mutter also: Aus Böhmen, vertrieben, wobei, das ist Familienbla: Eigentlich, gesteht sie, hätten sie auch bleiben dürfen. Immer am Arbeiten, putzt in fremden Häusern, liest, wenn sie sich die Zeit stehlen kann, schlägt, wenn sie nicht mehr weiterweiß… Der Erzähler selbst also: trinkt. Ein Dose nach der anderen wird auf dieser Fahrt geöffnet, vom Kind an den Fahrer weitergereicht. Die Großmutter hatte der Schwiegertochter einst schon versprochen, wenn erst die Kinder da sind, werde das mit dem Trinken besser. Ach ja.
Von Kurve zu Kurve führt Bov Bjerg den Leser, von Bild zu Bild. „Rotbraune Ziegeldächerflecken, darin ragten die Stacheln der Kirchen auf. Damit sich der Allmächtige nicht hinpflanzte mit seinem breiten Arsch.“Manchmal liest man den pointensicheren Gagschreiber heraus, trimmt Bjerg seine große Geschichte auf konsumierbaren Lesestoff hin. Manchmal wird man als Leser müde, diesem in seine Kämpfe verstrickten Erzähler zu folgen. Um danach wieder mitgerissen zu werden von der Sprachkunst des Bov Bjerg. „Im Inneren der Kirche war alles weiß und golden und geschnörkelt. Sie hatten dem lieben Gott ein riesiges Mädchenzimmer hingestellt.“Solche Sätze eben.
In jeder Kurve, die dieser Roman nimmt, besteht die Gefahr, herausgetragen zu werden. Eine schwindelerregende Fahrt, dann aber lenkt Bjerg wieder auf eine kurze Anhöhe, Ausatmen, ein inniger Moment mit dem Sohn. „Wir machen ganz schön viel zusammen“, sagt der Junge beiläufig froh, bevor er wieder seine Kopfhörer aufsetzt.
Worum es geht? Um das Kind natürlich. Um die Liebe für dieses Kind, und ob und wie man es retten kann vor dem Generationenfluch. Vor der Scheißwut der Scheißväter. Irgendwann, auf dieser Reise quer durch die düstere Vergangenheit, begreift der Vater, was ihn von seinem unterscheidet: „Ich war für den Vater: NICHTS. Der Junge war für mich: ALLES.“Ist das die Erlösung? Stefanie Wirsching