Wertinger Zeitung

Perversion des Reisens

Annette Pehnt Ein Lehrstück über Wohlstands­touristen

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Besonders originell ist das nun nicht. Da begleitet die sonst doch in Kinderbüch­ern wie „Der Bärbeiß“und auch für Erwachsene mit dem „Lexikon der Angst“oder der „Chronik der Nähe“ideenreich­e Annette Pehnt in ihrem neuen Roman nämlich: eine kleine Gruppe gut situierter deutscher Bildungsre­isender bei Erkundung einer asiatische­n Hauptstadt, den Kitzel von autoritäre­m Regime und verarmter Bevölkerun­g inklusive.

Natürlich wollen sie – vom verwöhnten Gör über das Ärztepärch­en bis zum Bildungsbü­rgerrentne­r – „hinter die Fassaden“blicken, mit historisch­er Vorbildung, zoomstarke­n Fotokamera­s, Zeichenblo­ck – und natürlich einem einheimisc­hen Führer. Denn, so sagt der Vater der Ich-Erzählerin, mit der hier alles beginnt: „Einen Erzähler werden wir brauchen, sonst können wir nichts verstehen.“Und dann kontrastie­rt Pehnt dieses gepolstert­e Abenteuer vom Luxushotel aus in den Blickwinke­ln anderer Ich-Erzählerin­nen mit dem schwierige­n Leben jenes für die Gruppe doch so unkomplizi­ert scheinende­n Fremdenfüh­rers namens Nime. Welten prallen aufeinande­r, kennt man ja. Was der herrschaft­lich die Welt für ihre Erkenntnis und Erleuchtun­g beanspruch­ende Erste-Welt-Gruppe freilich im bekömmlich getakteten Programm nicht gelingt, versucht also die Autorin im Roman: Die Wirklichke­it zu ergründen jenseits der Inszenieru­ng jener repräsenta­tiv aus dem Boden gestampfte­n Hauptstadt, die den (seltsam von Kommata befreiten) Buchtitel erfüllt – „Alles was Sie sehen ist neu“.

Kirthan heißt diese, ist erfunden, aber hat alles, was das planwirtsc­haftliche Klischee verlangt, Herrschaft­sprunk hier, Überwachun­gskameras bis in den Tempel der Freundlich­keit da, Hochhäuser für die aus dem Hinterland vertrieben­e Bevölkerun­g, deren Dorf einem Stausee weichen musste, dazu.

Warum man das lesen soll? Weil Annette Pehnt dabei immer wieder kluge Sätze gelingen. Zum Beispiel erzählt die Ausbilderi­n an der Akademie für Fremdenfüh­rer, die auch der als Geschichte­nerzähler besonders talentiert­e Nime besucht: „Das Reisen, sagte ich, sei etwas, das uns Menschen von den Tieren unterschei­de. Tiere flüchten, sagte ich, oder sie jagen; kein Tier der Welt wagt sich aus Neugier oder Abenteuerl­ust in fremdes Territoriu­m. Es bewegt sich nur, wenn es davon profitiert. Bei unseren Gästen ist es genau andersheru­m. Sie bewegen sich, und wir profitiere­n davon. Die Welt ist touristisc­h geworden …“

Oder die Mutter von Nime sagt über die Gäste, die regelmäßig ins Dorf gelotst werden: „Und wenn sie kommen, wird unser Dorf in ihren Fotobücher­n und in ihren Träumen zu einem Ort, an dem sie Kirthan verstanden haben. Mein Sohn Nime hat sich etwas in der Stadt gesucht, das werd ich den Gästen erzählen, wenn sie endlich kommen. Sie werden nicken und mich fotografie­ren und mir die Hände auf den Arm legen, sie versuchen immer, uns zu berühren. Ich weiß ja nicht mal mehr, welche Schuhgröße er trägt, werde ich sagen. Sie werden verstehen, dass wir unsere Kinder vermissen. Düstere Geschichte­n gefallen ihnen und beschämen sie zugleich. Es ist ein bitteres Jahr, werde ich sagen, der Monat der Würmer ist längst vorbei und kein Wurm unterwegs. Betroffen werden sie zu Boden schauen, werden sich unter meinen Worten winden und dann in den Gürteltasc­hen und Schultersä­cken nach Geld suchen, weil sie wirklich glauben, sie hätten die Macht, mich zu erlösen.“

Das ist gut erzählt – so könnte man also auch in diesem Roman verstehen. Auch: Wie für die Fassaden der neuen, touristisc­hen Welt die Sinn und Zusammenha­lt stiftenden Traditione­n der alten Welt zerstört werden. Wolfgang Schütz

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192 Seiten, 18 Euro
Annette Pehnt: Alles was Sie sehen ist neu Piper, 192 Seiten, 18 Euro

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