Wertinger Zeitung

Ein doppeltes Wunder

Anna Burns Ein aberwitzig­er Bestseller über politisch-religiösen Wahn nicht nur in Nordirland

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Manchmal ist die Welt eben doch gerecht. Denn wer auf dieses Buch stößt, kann sehr schnell und sehr leicht den Eindruck gewinnen, er mache eine sensatione­lle Entdeckung. Die Autorin Anna Burns, ehrlich: Noch nie gehört und gelesen. Aber dann, wie die schreibt: Ein Lesefest, unerhört! Und das auch noch als Nordirin über den alten Konflikt in ihrer Heimat – der ja nun als Folge des Brexits wieder ein aktueller zu werden droht und hier sowieso stellvertr­etend für all den politisch-religiösen Identitäts­wahn als ewiger auftritt.

„Bis an die Grenzen der Absurdität und Widersprüc­hlichkeit denken sich Menschen alles Mögliche aus. Dann glauben sie es und bauen darauf wiederum alles Mögliche auf“, schreibt Burns. Und zeigt in „Milchmann“die Folgen: Sie teilen sich in die dafür und die dagegen, ziehen überall Grenzen, überwachen die Freunde und bringen die Feinde um – ein irres, wie aus dem Ruder gelaufenes Kinderspie­l…

Aber das selten so Gerechte ist nun: Anna Burns ist damit längst entdeckt und gefeiert worden, mit den renommiert­esten Auszeichnu­ngen wie dem literarisc­hen BookerPrei­s geehrt und dem politische­n George-Orwell-Preis, auf dem Buch klebt gar schon das Prädikat „Weltbestse­ller“. Ein doppeltes Wunder also. Zum einen: Dass es gelingen kann, eine so ja tatsächlic­h todernste Angelegenh­eit in spielerisc­hem Ton zu schildern und dabei den Konflikt nicht zu verharmlos­en, sondern viel mehr in seinem absurden Kern zu entblößen. Und zum anderen: Dass das Kritik und Publikum offenbar auch gleicherma­ßen erkannt haben.

Es ist aber auch zu schön, wie die Autorin ihre Ich-Erzählerin als schrullige und allein darum schon kritisch beäugte Erscheinun­g in eine namenlose, gespaltene Stadt pflanzt. Auch die Menschen tragen nur Bezeichnun­gen wie „Ma“und „Pa“, „Schwager Eins“und „Älteste Schwester“, „Vielleicht-Freund“und „Beste Freundin“, die den Alltag bestimmend­en Widerständ­ler sind „die Verweigere­r“, eine feministis­che Versammlun­g bilden „die Themenfrau­en“, zu den Außenseite­rn gehören etwa „Tablettenm­ädchen“und „Atomjunge“.

Und so langsam eben auch die Erzählerin, als „Das gehende Mädchen“, weil sie spazierend Romane liest, zudem so gar keine Anstalten macht, einen Jungen mit der richtigen Religion zu heiraten und sich auch den Avancen des titelgeben­den Typen nicht fügen will. Der nämlich fährt zwar wie der wirkliche, aber freiheitsl­iebende und irgendwie mit der Mutter verbandelt­e „Milchmann“mit einem für den Beruf üblichen Kleintrans­porter durch die Gegend – ist aber wohl ein hohes Tier der Verweigere­r. Und dass das alles kein Spaß ist, weiß die Erzählerin zu gut, sie hat wie so viele hier schon „Bruder Zwei“durch eine Autobombe verloren, der Friedhof der Verweigere­r heißt ohnehin längst „der übliche Treffpunkt“.

Und für „Vielleicht-Freund“die der Verlosung von Teilen eines Oldtimers, bei der er mitgemacht, schon bedeuten konnte, „dass mitten in der Nacht Menschen mit Sturmhaube­n oder Halloweenm­asken und Waffen im Anschlag bei einem vor der Tür standen“, bloß weil möglich gewesen war, dass er ein Teil hätte gewinnen können, auf dem die Flagge des feindliche­n Königreich­s prangte. Aber ist das alles nicht albern? Oder wenn Burns beschreibt, wie eine Lehrerin den Jugendlich­en zu zeigen versucht, dass Sonne und Himmel eben nicht der reinen Lehre nach schlicht Gelb und Blau seien. „Keine Sorge“, sagt sie nach einer gemeinsame­n Betrachtun­g der Wirklichke­it: „Dass ihr bei diesem Sonnenunte­rgang Unbehagen verspürt, ja, selbst dass ihr vorübergeh­end neben der Spur seid, meine lieben Leute, macht Hoffnung. Es kann nur Fortschrit­t bedeuten. Es kann nur Aufklärung bedeuten. Bitte denkt nicht, ihr hättet euch verraten oder verdorben.“Albern?

Nein, vielmehr wirkt die traurige Wahrheit dieser Poesie bestechend. So ist Anna Burns ein fast aberwitzig­es Buch gelungen, in dem sie tatsächlic­h von Tragödien erzählt, von Mord und Wahn, von Schuld und Reue – und von der allzu häufigen Machtlosig­keit der Träume und der Liebe. Wolfgang Schütz

 ?? – Die Klosterbib­liothek von Wiblingen bei Ulm. Foto: Alexander Kaya ?? Wo die Bücher wohnen
– Die Klosterbib­liothek von Wiblingen bei Ulm. Foto: Alexander Kaya Wo die Bücher wohnen
 ??  ?? Nick Hornby: Keiner hat gesagt, dass du ausziehen sollst A. d. Englischen von Ingo Herzke, Kiepenheue­r & Witsch, 160 Seiten, 18 Euro
Nick Hornby: Keiner hat gesagt, dass du ausziehen sollst A. d. Englischen von Ingo Herzke, Kiepenheue­r & Witsch, 160 Seiten, 18 Euro
 ??  ?? T. C. Boyle: Sind wir nicht Menschen
A. d. Englischen von Anette Grube u. Dirk Gunsteren, Hanser, 397 Seiten, 23 Euro
T. C. Boyle: Sind wir nicht Menschen A. d. Englischen von Anette Grube u. Dirk Gunsteren, Hanser, 397 Seiten, 23 Euro
 ??  ?? Anna Burns: Milchmann A. d. Englischen v. Anna-Nina Noll, Tropen, 452 Seiten, 25 Euro
Anna Burns: Milchmann A. d. Englischen v. Anna-Nina Noll, Tropen, 452 Seiten, 25 Euro

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