Eine Stadt auf Drogen
Krimi! Aber auch: Großer Gesellschaftsroman
Auch Kensington galt als einst Verheißung. Der Engländer, der es gründete, benannte es nach dem königlichen Londoner Stadtteil. Mitte des 19. Jahrhunderts entstand hier am Fluss Delaware das Wirtschaftszentrum der Gegend. Heute ist der Stadtteil Philadelphias bekannt als der größte Drogenumschlagplatz der amerikanischen Ostküste. „Entlang der größeren Straßen finden sich Nagelstudios, Imbissbuden, Handyladen, Ramschläden… Etwa ein Drittel der Ladenfronten ist verriegelt und verrammelt.“So beschreibt es die US-Autorin Liz Moore in ihrem furiosen Kriminalroman „Long Bright River“. Als ein dunkles Zwischenreich, verwahrlost, aufgegeben, in dem vor allem zwei Arten von Geschäft laufen: Sex und Drogen.
Hier also ist das Einsatzgebiet der Streifenpolizistin Mickey Fitzpatrick, Anfang 30, alleinerziehende Mutter, und hier an einem einst von Güterzügen viel befahrenen und nun brachgelegten Gleis, beginnt der Roman: Mit einer toten Frau. Das nächste Drogenopfer… Enden wird er mit einer berührenden Szene in einer Neugeborenenstation –, aber, wie auch in der Anfangsszene, bedarf es eines zweiten genauen Blicks, um die ganze Realität zu erfassen. Die tote junge Frau neben dem Gleis jedenfalls ist nicht an einer Überdosis gestorben.
Liz Moore ist eine literarische Erzählerin, sorgsame Satzbauerin, versiert im Rhythmus- und Tempowechsel. Und „Long Bright River“daher weniger eine auf Spannung gedrillte Geschichte als vielmehr ein überzeugend komponierter Gesellschaftsund Familienroman – mit einer Polizistin als Hauptfigur. Polizeiroman also auch. Mickey sucht nicht nur nach dem Mörder, der sich als Serientäter herausstellt, sondern zeitgleich nach ihrer Schwester. Kacey, drogenabhängig. Seit fünf Jahren haben die beiden keinen Kontakt mehr miteinander. Aber als
Streifenpolizistin in Kensington hat Mickey das Gefühl, zumindest noch auf sie achtgeben zu können. Jetzt hat sie ihre Schwester seit einem Monat nirgends mehr entdecken können, sucht in Zivil in verwahrlosten Häusern und Hinterzimmern und verletzt dabei Dienstvorschriften. Auf die Kollegen kann sie sich nicht verlassen, der einstige Partner muss nach einem Überfall seine Verletzungen auskurieren, der neue ist ihr unerträglich – also ermittelt sie allein, einsam.
Der Roman erzählt von dieser verzweifelten Suche und parallel von der Kindheit dieser beiden Schwestern: Die Mutter, als Anfang Zwanzigjährige den Drogen zum Opfer gefallen, der Vater, vermutlich ebenfalls tot. Aufgewachsen sind sie bei der schicksalsverhärteten Großmutter. Zwei Kinder, die sich gemeinsam ans Leben geklammert haben, aber eines hat irgendwann losgelassen. Schon einmal hat Mickey Kacey leblos aufgefunden.
„An dem Tag erfuhr ich folgendes Geheimnis: Keiner von ihnen will gerettet werden. Sie wollen alle wieder zurücksinken Richtung Erde, um vom Boden verschluckt zu werden, um weiterzuschlafen.“
Von der Angst der Mütter, der eigenen Schuld, auch davon erzählt dieser eindringliche Roman. Und wie die Opioidkrise durch die Familien hinweg eine Spur des Todes und der Verwüstung hinterlässt. Eine ganze Stadt wie ein Schlachtfeld. Zu Hause hatten sie einst fünf Bücher, erzählt Mickey: die Bibel, NancyDrew-Bücher und eine alte Sammlung von Märchen der Brüder Grimm. Ihre Lieblingsgeschichte war die vom Rattenfänger von Hameln. „Ich stelle mir die Droge als Rattenfänger vor. (...) Ich stelle mir die Stadt Hameln nach dem Ende der Geschichte vor, wenn die Kinder und die Musik und der Rattenfänger verschwunden sind. Ich kann sie hören: die schreckliche Stille der Stadt.“Stefanie Wirsching