Wertinger Zeitung

Mein Retter, der Riesenhund

Sigrid Nunez Dieser Roman über Freundscha­ft, Trauer und eine Dogge ist eine Sensation

-

Nein, mit diesem Erfolg hatte sie nicht gerechnet. Ein Roman über Trauer, Freundscha­ft und einen Riesenhund, wer will das schon lesen? Nicht einmal ihr Verlag hatte an einen Bestseller geglaubt. Für Sigrid Nunez völlig in Ordnung, schließlic­h schreibt sie nicht für den Ruhm, nicht für das Geld oder die Auflage, sondern des Schreibens wegen. Um sich ihrer Berufung als Schriftste­llerin völlig hingeben zu können und finanziell frei zu sein, hatte sie sich vor Jahren schon gegen Familie und Kinder entschiede­n. „Ich bin Schriftste­llerin geworden, weil das etwas ist, was ich alleine und verborgen in meinem Zimmer machen konnte“, sagte sie in einem Interview mit der New York Times. Und dann hat sie in ihrem versteckte­n Zimmerlein ein Buch geschriebe­n, das in den USA bereits für eine Sensation gesorgt hat. Für ihren Roman „Der Freund“bekam Sigrid Nunez 2018 den renommiert­en „National Book Award“und wurde über Nacht berühmt. Mit 67 Jahren und ihrem achten Buch, das nun endlich auch auf Deutsch erschienen ist.

„Der Freund“handelt von einer New Yorker Schriftste­llerin und Dozentin – mittleres Alter, Single, Katzenmens­ch –, deren geliebter Freund und Mentor sich überrasche­nd das Leben genommen hat. Sie ist fast vor Trauer erstarrt, als die dritte Ehefrau ihres Freundes ihr Apollo aufs Auge drückt: seine weiß-schwarz-gescheckte Deutsche Dogge. Obwohl die Schriftste­llerin in ihrer kleinen Wohnung in Manhattan keine Hunde halten darf, nimmt sie das Tier auf und riskiert damit, ihr Zuhause zu verlieren. Doch durch den Hund ihres besten Freundes fühlt sie sich dem Verstorben­en näher. Das 80-Kilo-Tier stellt ihr Leben auf den Kopf, frisst die Hausaufgab­en ihrer Studenten und nagt ihre Bücher an (mit Vorliebe „verreißt“er Knausgård), lässt sich gerne Rilke vorlesen und beanspruch­t ihr Bett erst einmal für sich. Apollo bringt zwar das Chaos, aber er ist gleichsam auch die Rettung für die Erzählerin, weil sie sich nun kümmert und auch wieder schreibt. Dadurch wird die Trauer erträglich­er. Oder wie sie es ausdrückt: „Eine Lawine der Verzweiflu­ng, und Apollo bringt mir ein Buch wie der Bernhardin­er, der mit dem Fässchen Schnaps durch den Schnee zur Hilfe eilt.“

Soweit der rote Faden des Buchs, das übrigens interessan­t angelegt ist: Die Schriftste­llerin richtet als IchErzähle­rin einen Monolog an ihren verstorben­en Freund. Und was für einen unterhalts­amen. Sie breitet darin seine Affären aus, sie erzählt

„Apollo bringt mir ein Buch wie ein Bernhardin­er den Schnaps“

ihm ihre intimsten Gedanken, sie gibt ihm das Getratsche auf seiner Beerdigung weiter, erinnert sich, wie sie sich einst an der Uni kennengele­rnt haben, sie die Studentin, er der Student, sie sinniert, weshalb er sich nun umgebracht hat. Lag’s am Alter, weil die Frauen ihn nicht mehr begehrten? Oder weil er die Literaturw­elt nicht mehr verstand und an ihr verzweifel­te? Und natürlich erzählt sie ihm auch dauernd von Apollo.

Klar, die Hundeepiso­den sind die lustigsten und mitunter skurrilste­n, doch viel interessan­ter ist das literarisc­he Gassigehen mit Sigrid Nunez.

„Der Freund“ist wie eine Wundertüte, in der auf fast jeder Seite ein kleiner Schatz steckt, den sich der Leser wie ein Hund auf einer Wiese erschnüffe­ln kann: Hier ein überrasche­nder Gedankenga­ng der IchErzähle­rin, da wieder eine wunderbare Anekdote, mal lustige, skurrile oder auch traurige, dort ein schönes Zitat eines klugen Menschen. Die Ich-Erzählerin nennt etwa Rilkes Definition von Liebe: „Dass zwei Einsamkeit­en einander schützen, grenzen und grüßen“, und wendet dieses ein paar Seiten später auf sich und Apollo an. Oder sie erzählt auch die Geschichte des treuen Hundes Hachiko vom Tokioter Bahnhof, der jahrelang auf sein verstorben­es Herrchen wartete.

Die Idee zu ihrem Buch kam ihr, so erzählt sie in Interviews, weil in ihrem Umfeld so viele Menschen über Suizid nachdachte­n oder sprachen. Während sie an „Der Freund“schrieb, stürzte sich ein Freund sogar von der Golden Gate Bridge. Das Überrasche­nde: Trotz dieses Themas ist ihr Roman aber ein heiteres Buch, ein lebensbeja­hendes sogar, das aus dem Leben gegriffen und überhaupt nicht konstruier­t wirkt.

Sigrid Nunez hat darin viel Autobiogra­fisches verwebt. Wie die IchErzähle­rin

lebt sie seit den 1980er Jahren am Union Square in Manhattan, alleinsteh­end. Sie sieht Schreiben als Berufung und verdient ihr Geld als Uni-Dozentin für Kreatives Schreiben. Sie ist ein Katzenmens­ch, der Hunde mag. Sie liebt Literatur und hat eine besondere Vorliebe für Rainer Maria Rilke, Virginia Woolf, Mary Flannery O’Connor, Milan Kundera und J. M. Coetzee, die sie an vielen Stellen in „Der Freund“zitiert.

Fernab der gedruckten Seiten gibt Sigrid Nunez nicht viel von sich Preis. Sie hat keinen Social-MediaAccou­nt, twittert nicht, auf ihrer Homepage steht nur das Minimalpro­gramm mit Kurzvita, Veröffentl­ichungen, Auftritten. Der New York Times verriet sie immerhin, dass sie auf Staten Island als Tochter einer deutschen Mutter und eines panamaisch­en Chinesen aufgewachs­en ist und Bücher für sie schon früh ein Zufluchtso­rt waren. Als junge Frau lernte sie die Amerikaner­in Susan Sontag und deren Leben als berühmte Schriftste­llerin kennen (später schrieb Nunez auch ein Buch über sie) –, damals war ihr schon klar: Schreiben, ja, Ruhm, bloß nicht. „Ich wollte die Ruhe.“Es ist ihr zu wünschen, dass sie die bald wieder hat. Lea Thies

Sigrid Nunez: Der Freund

 ??  ?? A. d. Englischen von Anette Grube, Aufbau-Verlag, 235 Seiten, 20 Euro
A. d. Englischen von Anette Grube, Aufbau-Verlag, 235 Seiten, 20 Euro

Newspapers in German

Newspapers from Germany