Eine neue Sicht auf Hitler
Brendan Simms Erhellend: Der Diktator und sein ambivalentes Verhältnis zu Anglo-Amerika
Als der britische Außenminister Lord Halifax im November 1937 Hitler auf dem Berghof aufsuchte, habe er den Reichskanzler zunächst für einen Diener gehalten. Offenbar hatte der sonst so großsprecherische und selbstbewusste „Führer“eine entsprechende Haltung eingenommen – oder gespielt?
Diese Anekdote illustriert den Grundtenor der Biografie des Cambridge-Historikers Brendan Simms: Hitler bewunderte, zeigte Respekt und fürchtete die Stärke Großbritanniens und dahinter der USA. Dieser neidvolle und immer auch ängstliche Blick auf Anglo-Amerika bestimmte nach dieser neuen Lesart Hitler in seinen Entscheidungen und Handlungen stärker als die Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus.
Letztlich führte er gegen beide einen aussichtslosen Krieg mit verbrecherischen Mitteln, aber er spekulierte bis zuletzt auf einen Separatfrieden mit dem Westen. Der Krieg im Osten sollte den „Lebensraum“für das deutsche Volk erweitern, weil erst diese größere Fläche und diese größeren Ressourcen Deutschland für den Kampf gegen AngloAmerika stark genug machen würde. Simms schafft mit seiner monumentalen Hitler-Biografie eine völlig neue Sicht auf dessen Beweggründe.
Eine Quelle dieser Hochachtung vor den wirtschaftlichen und personellen Möglichkeiten des Britischen Empire und der USA sei Hitlers Begegnung mit zwei amerikanischen Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg gewesen, die von deutschen Auswanderern abstammten. Hitler beklagte die millionenfache Auswanderung von Deutschen nach Amerika und Australien als Verlust für das deutsche Volk und führte sie auf den fehlenden „Lebensraum“und auf die Attraktivität der Einwanderungsländer zurück. Wie eine Bestätigung liest sich die lange Namensliste der deutschstämmigen Generäle der US Army, die 1944/45 den Kampf gegen Nazideutschland über den Rhein trugen. Hitler bescheinigte den Briten und auch den USA eine höhere „rassische“Qualität als dem deutschen Volk, das aus historischen Gründen aus vielen rassischen Komponenten bestünde.
Die Feindschaft dieser „germanischen Brudervölker“gegen Deutschland führte Hitler auf das Wirken des internationalen Großkapitals und der dieses beherrschenden einflussreichen Juden in London und in New York zurück. Die Biografie von Simms liest sich anfangs eher wie ein „Persilschein“für Hitler, der den jüdischen Arzt seiner Mutter vor seinen mörderischen Verfolgungen ausweichen ließ. Aus den frühen Jahren seien von Hitler keine antisemitischen Äußerungen oder Haltungen bekannt. Nach dem Ersten Weltkrieg begann er in München, gegen die Friedensbedingungen von Versailles zu agitieren. Später, während der Weimarer Zeit, polemisierte er gegen den Young-Plan zur Streckung der Reparationszahlungen und betonte den jüdischen Einfluss in Anglo-Amerika. Er erfand eine jüdische Weltverschwörung, die auf Deutschland zielte.
Eine Biografie Hitlers ist immer auch eine Geschichte der NSDAP und der Eskalation der Judenverfolgung bis zum Holocaust. Simms konzentriert sich auf markante Ereignisse und wichtige Personen, stellt immer die Einflussnahme und Reaktionen Hitlers auf die Entwicklung
„Aus dem Volk ohne Raum wurde ein Raum ohne Volk“
in den Vordergrund. Er stützt sich auf die zahllosen Vorarbeiten von Historikern, liefert also eine Art Meta-Analyse, die er allerdings mit eigener, überzeugender Urteilskraft zu einer wirklich neuen Sicht auf den Diktator zusammenfasst. Das gilt auch für die Zeit des Zweiten Weltkriegs, die Simms nur an ausgewählten Ereignissen als Militärgeschichte schreibt. Dabei legt er manchen Details für sein britisches Heimatpublikum ein vergleichsweise größeres Gewicht bei, wie z.B. den Planungen der „Achsenmächte“für eine Eroberung Maltas oder die Behandlung der von der Wehrmacht besetzten Kanalinseln. Immer steht die Person Hitler im Mittelpunkt seiner „globalen Biografie“. Immer wieder kommt Simms – mehr nebenher – auf die persönlichen Lebensumstände und den sich rapide verschlechternden Gesundheitszustand Hitlers zu sprechen.
Im Mittelpunkt der politischen Biografie der Kriegszeit stehen die über die Propagandamittel beider Seiten ausgetauschten Rededuelle mit Churchill und später mit Roosevelt. Frankreich hatte nie eine bedeutende Rolle in Hitlers Denken gespielt, die Sowjetunion eigentlich nur als der Raum, auf dem deutsche Siedler leben sollten. Als dieser Raum erobert war, standen die denkbaren Siedler „im Felde“und fehlten für die Besiedlung. Simms bringt diesen Zustand prägnant auf den Punkt, wenn er schreibt: „Aus dem Volk ohne Raum wurde ein Raum ohne Volk.“Da dieser „Lebensraum“von Menschen bewohnt war, plante er deren Vernichtung, so wie er die „nutzlosen Esser“in Deutschland durch sein EuthanasieProgramm ausschaltete. Der zum „Todesraum“gewordene „Lebensraum“, den Hitler anstrebte, war nach dessen Auffassung nötig, um gegen Anglo-Amerika mit seinen nahezu unbeschränkten Ressourcen bestehen zu können.
Brendan Simms stellt in seiner „globalen Biografie“eine andere, bisher vernachlässigte Seite von Hitlers politischer Motivation dar. Diese wird bei künftigen Beschreibungen der Person und der Politik des „Dritten Reiches“nicht mehr übersehen werden können. Wieder, wie schon Christopher Clark, schreibt ein britischer Historiker aus Cambridge einen Teil der deutschen Geschichte neu. Wie Simms diese Herausforderung gemeistert hat, kann man nur bewundern.