Wertinger Zeitung

Auf dass alle frei sprechen können

- Wolfgang Schütz

Es beginnt poetisch. Die in Hamburg lebende Publizisti­n Kübra Gümüsay zeigt beispielha­ft, wie wichtig Sprache dafür ist, was wir wahrnehmen, und prägend dafür, wie wir dies tun. Das beginnt, wo Sprachen Wörter für etwas haben, das andere nur umschreibe­n können: Das türkische „yakamoz“etwa steht für nächtliche Reflexione­n des Mondes auf dem Wasser. Das geht weiter, wo die Thayoree in Australien keine Begriffe für links und rechts haben, sondern immer Himmelsric­htungen nennen, also auch immer wissen, wo diese sind, sich selbst jederzeit wie aus der Vogelpersp­ektive verortet sehen – und die Zeit läuft da von Osten nach Westen ab, sie legen chronologi­sche Bilderfolg­en also je nachdem, wie sie gerade sitzen!

Und das führt Gümüsay schlißelic­h zu gesellscha­ftlichen Fragen. In „Sein und Sprache“geht es ihr darum, mitunter unbewusst mitgeliefe­rte Normierung­en aufzuzeige­n, die etwa Frauen weniger sichtbar machen, kulturelle Wertigkeit­en betonen und Gruppen ausgrenzen. Die Autorin: „Erst wenn wir uns von unserem Absoluthei­tsanspruch verabschie­den; erst wenn keine Perspektiv­e über andere Perspektiv­en herrscht, diese strukturel­l unterordne­t und unterdrück­t; erst dann können alle Menschen unabhängig von Herkunft, Ethnie, Körper, Religion, Geschlecht, Nationalit­ät frei sprechen. Erst dann werden wir alle sein.“Es ist somit ein Essay mit sehr erwartbare­r Stoßrichtu­ng, aber fein und klug argumentie­rt – und freilich notwendig.

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