Auf dass alle frei sprechen können
Es beginnt poetisch. Die in Hamburg lebende Publizistin Kübra Gümüsay zeigt beispielhaft, wie wichtig Sprache dafür ist, was wir wahrnehmen, und prägend dafür, wie wir dies tun. Das beginnt, wo Sprachen Wörter für etwas haben, das andere nur umschreiben können: Das türkische „yakamoz“etwa steht für nächtliche Reflexionen des Mondes auf dem Wasser. Das geht weiter, wo die Thayoree in Australien keine Begriffe für links und rechts haben, sondern immer Himmelsrichtungen nennen, also auch immer wissen, wo diese sind, sich selbst jederzeit wie aus der Vogelperspektive verortet sehen – und die Zeit läuft da von Osten nach Westen ab, sie legen chronologische Bilderfolgen also je nachdem, wie sie gerade sitzen!
Und das führt Gümüsay schlißelich zu gesellschaftlichen Fragen. In „Sein und Sprache“geht es ihr darum, mitunter unbewusst mitgelieferte Normierungen aufzuzeigen, die etwa Frauen weniger sichtbar machen, kulturelle Wertigkeiten betonen und Gruppen ausgrenzen. Die Autorin: „Erst wenn wir uns von unserem Absolutheitsanspruch verabschieden; erst wenn keine Perspektive über andere Perspektiven herrscht, diese strukturell unterordnet und unterdrückt; erst dann können alle Menschen unabhängig von Herkunft, Ethnie, Körper, Religion, Geschlecht, Nationalität frei sprechen. Erst dann werden wir alle sein.“Es ist somit ein Essay mit sehr erwartbarer Stoßrichtung, aber fein und klug argumentiert – und freilich notwendig.