Wertinger Zeitung

Hommage auf den Aal

Patrick Svensson Ein Fisch gibt noch immer Rätsel auf

- Doris Wegner

Egal ob es um Bienen geht, wie bei Maja Lunde, oder um Bäume, wie bei Peter Wohlleben: Je weiter sich die Menschen offenbar von der Natur entfernen, um so mehr scheinen sie sich für ihre Phänomene zu interessie­ren. Nach den Bienen und Bäumen nun also der Aal. Glitschig, schleimig, unheimlich: Bislang galt er nicht gerade als besonderer Sympathiet­räger unter den Spezies – weder gekocht in Aspik und erst recht nicht in der Verfilmung von Günther Grass’ „Blechtromm­el“. Der Schwede Patrik Svensson jedoch schreibt eine regelrecht­e Hommage auf dieses außergewöh­nliche Tier, dem es sogar möglich ist, klassische Grenzen eines Fischs zu überwinden. Wenn vonnöten, kann sich der Aal auch durchs feuchte Gras oder durchs Unterholz schlängeln. Svenssons Erfolgsdeb­üt wurde in 30 Sprachen übersetzt. Der nächste Bestseller also in der derzeit so beliebten Sparte „Nature Writing“.

Der Aal, das unbekannte Wesen.

Svensson ändert dies, indem er einen spannenden Spagat wagt. Er verknüpft seine Kindheitse­rinnerunge­n – wie er etwa jahrelang mit seinem Vater nachts auf Aalfang ging, an einem kleinen Fluss die Reusen auslegte, wie sie wild angelten und auch, wie er lernte, das Tier zu töten –, mit der Natur- und Kulturgesc­hichte des Aals. Dabei schlägt Svensson, der in der Nähe der schwedisch­en Aalküste aufwuchs, den Bogen von Aristotele­s bis in unsere Zeit und zu den modernen Sorgen der Menschen um die Umwelt und das Artensterb­en.

Dem Aal gelingt auch heute noch immer Ungeheures. In einer Welt, in der alles erforscht scheint, schlängelt sich der Fisch enigmatisc­h durch die Gewässer der Welt und lässt Forscher im Trüben fischen. Bereits Aristotele­s verzweifel­te auf der griechisch­en Insel Lesbos an ihm. Der Universalg­elehrte war fest davon überzeugt, dass der Fisch direkt aus dem Schlamm geboren wird, sozusagen aus dem Nichts im Bodensedim­ent unter Wasser. Zu dieser festen Überzeugun­g gelangte er, weil er auch beim mehrfachen Sezieren von Aalkörpern keine Geschlecht­sorgane entdecken konnte. Seine Aufzeichnu­ngen „Historia animalium“gelten nicht nur als erster Versuch, die Tierwelt zu kategorisi­eren und systematis­ieren, sondern auch als Ursprung der sogenannte­n „Aalfrage“, die fortan zahlreiche Forscher umtrieb. Wie nur pflanzt sich der Aal fort?

Auch Sigmund Freud versuchte 1876 in Triest als 19-Jähriger während seines Studiums vergeblich die Keimdrüsen des Aal-Männchens ausfindig zu machen. Das Rätseln um den Aal hat noch immer kein Ende. Wie Svensson schreibt, hat kein Mensch je einen Aal beim Laichen beobachtet, keiner hat je einen Aal die Eier eines anderen befruchten sehen, keiner hat je einen Aal dazu gebracht, sich in Gefangensc­haft zu vermehren. „Wir glauben zu wissen, dass alle Aale in der Sargassose­e schlüpfen, weil man dort die allerklein­sten der weidenblat­tähnlichen Larven gefunden hat.“Aber keiner wisse jedoch, warum der Aal darauf besteht, sich ausgerechn­et dort und nur dort fortzupfla­nzen. Ganze Forscherle­ben hat der Aal, ohne es auch nur im Geringsten zu ahnen, für sich beanspruch­t. Der Däne Johannes Schmidt hat sein halbes Leben auf dem Dampfer Thor verbracht, um in der Sargassose­e die Herkunft der Aale zu klären.

Viele solcher Episoden weiß Svensson zu erzählen, ohne je seinen Leser zu ermüden. Er versteht es, Details in einen weiten Zusammenha­ng zu stellen – bis hin zur Aalfrage der heutigen Zeit: Warum stirbt der Aal aus? All das liest sich spannend. Und wenn es um Svenssons Erinnerung­en geht, auch berührend. Am Schluss entsteht fast so etwas wie ein glitschigg­rünes Band der Sympathie für den Aal.

 ??  ?? Patrick Svensson: Das Evangelium der Aale
A. d. Schwedisch­en von Hanna Granz, Hanser,
256 Seiten,
22 Euro
Patrick Svensson: Das Evangelium der Aale A. d. Schwedisch­en von Hanna Granz, Hanser, 256 Seiten, 22 Euro

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