Unterm Staub liegt die Wahrheit quer
Wer sich darauf einlässt, mit Büchern zu leben, kämpft immerzu gegen überfüllte Regale an
Ein Buch ist ein bisschen wie ein Auto: Es wird selten bewegt. Die meiste Zeit steht es kalt und verschlossen herum und nimmt Platz weg. Aber deshalb sich davon trennen? Abstoßen? In Bayern ist die Zahl der Autos laut Statistik zuletzt erneut deutlich stärker gestiegen als die Einwohnerzahl. Noch mehr herumstehen also. Wie sich das mit den Büchern bayernweit verhält, ist nicht erfasst und es ist auch egal. Denn den Kampf mit dem Lesestoff führt jeder für sich allein. Daheim.
Bücher sind wunderbar. Aber sie sind auch Ballast. Sie wiegen, Zentner, Tonnen. Sie brauchen Platz. Sie machen uns Raum streitig. Sie sprengen ihre Quartiere. Wohin mit all den Büchern? Diese Frage begleitet Leserinnen und Leser lebenslang, diese Frage wuchert durch alle Phasen der Sesshaftigkeit. Für das Aufbewahren, das Abstellen, Zwischenlagern und Präsentieren von Büchern gibt es Regale. Offene Bücherregale. Über Bücherschränke ist die Zeit hinweggegangen.
Wie wohnt es sich mit Büchern? Immer öfter gar nicht, weil aus den Wohnzimmern die Bücherwände mehr und mehr verschwinden. Abgedrängt in Arbeitszimmer, Studios, Bastelzimmer – oder ganz aus dem Lebensumfeld hinaus bzw. gar nicht mehr hinein. Mit solchen privatbibliothekenfreien Existenzformen wollen wir uns hier nicht groß beschäftigen.
Um Bücher daheim zu haben, muss man kein bibliophiler Typ sein. Bücher kommen dauernd ins Haus, sie sammeln sich nahezu absichtslos an wie Putzmittel unter der Spüle und wie Schuhe sowieso. Von denen trägt der Mensch auch immer nur ein Paar, während die anderen irgendwo herumstehen. Und doch ist der Rechtfertigungsdruck, der auf einfach nur still im Regal einstaubenden Büchern lastet, ungleich höher als der, dem Sandalen und Flip-Flops und Halb- und Schnürschuhe ausgesetzt sind.
So wie Schuhregale und Kleiderschränke immer voll sind, so sind auch Bücherregale immer voll. Ein Naturgesetz. Der Platz reicht nie. Die Illusion bei einem Umzug, es gebe nun endlich genug Regalmeter für die Bücher, ist eine Selbsttäuschung, die mindestens so alt ist wie das Papier. Ausgetrunkene Weinflaschen werden entsorgt und aus dem Haus geschafft. Ausgelesene Bücher nicht. Sie bleiben. Sie sind Ziegelsteine, aus denen man sich lebenslang ein Haus baut. Das LektüreErfahrungshaus, innerhalb dessen vier Wänden der Leser existiert, auf dessen Echo er nicht verzichten kann. Und erst recht bleiben natürlich die noch ungelesenen Bücher, die Verheißung schlechthin!
Volle Bücherregale sind keine Denkmäler für Rationalität, Einsicht und Umsicht. Im Grunde sind Bücherregale Barrikaden gegen den Einfall der Vernunft. Bücherregale verteidigen die Illusion von Zeitlosigkeit, sie sind letztlich Ausdruck kindlichen Trotzes gegen die Lebenserfahrung. Wer Bücher aufhebt und sich von keinem trennen kann, verteidigt das Konzept der Unsterblichkeit. Wer sich mit vielen Büchern auf vielen Regalmetern umgibt, verdrängt die Tatsachen. Bücher sind Fossilien. Das Erbe der Menschheit ausmisten? Nicht doch.
Joachim Kalka schreibt in seinem schönen Essay über den Staub: „Der Reiz der im Staub grabenden Archäologen ist dem verwandt, den der Sammler, Forscher. Müßiggänger erlebt, wenn er unbekannte, lange vernachlässigte Fächer einer Bibliothek visitiert. Vielleicht ist überhaupt die innigste Verbindung, die der Staub eingeht, die mit dem Buch. Die Bücher teilen oft das Fatum der Menschen: Sie liegen da, sie liegen herum, in den Staub gestreckt.“
Der Kampf gegen die ausufernden, einstaubenden, stetig anwachsenden Bücherberge ist nur zu gewinnen, wenn man nennenswerte Mengen abträgt, aussortiert, sich meterweise von Büchern trennt, radikal ausdünnt. Dieses Kapitel überspringen wir und widmen uns acht bewährten Strategien, mit denen im Kampf gegen zu viele Bücher zwar nicht zu obsiegen ist, die aber ein anständiges Patt ermöglichen. Auch im Schach ist das Remis keine Schande.
Strategie 1: Verdichten. Absoluter Lückenschluss überall, auf jedem
„Die innigste Verbindung des Staubs ist die mit dem Buch“
Meter geht noch was, Bücher hineinpressen! Sodann das Querlegen von Büchern in dem Raum, der zwischen Bücheroberkanten und Regalbrettunterkanten klafft.
Strategie 2: Zweite Reihe aufmachen! Man glaubt nicht, was da noch drin ist. Sogar im Billy-Regal ist es möglich. Doppelt belegen. Die Sorge, dass die verborgene, innenstehende Lektüre nicht mehr sichtbar ist, verfliegt schnell. Man wird diese hintere Reihe sowieso nie mehr frei graben.
Strategie 3: Anstückeln. Wer je registriert hat, wie schmal CD-Regale sind, die sich praktisch überall links oder rechts an die Regalwand noch hinzustellen lassen, wird nicht zögern. Weil oben auf den Regalen ja schon Bücher stehen, sind solche dezenten Erweiterungen plausibel.
Strategie 4: Turmbau. Stapel am und vorm Regal hochziehen. Direkt daneben und direkt davor mit Aufschichten beginnen. Bringt anfangs große Entlastung, läuft sich als Konzept aber irgendwann tot.
Strategie 5: Neuinterpretation der Wohnräume. Wen stört es, wenn in der Essnische, an der Wand, an die sowieso kaum Licht fällt, noch ein kleines, schmales, elegantes Regal steht. Nicht tief, fast unsichtbar, nur für ein paar filigrane Taschenbücher?
Strategie 6: Auslagern. Wenn auf dem Nachttisch fünfzehn Bücher liegen statt nur zwei und auf dem Couchtisch (und darunter) auch 25, summiert sich das auch und bringt ein paar Tage Entlastung.
Strategie 7: Selbstbetrug durch Aufschub. Einfach mit dem Ausmisten beginnen, dann aber insofern zum Anwalt der aussortierten Bücher werden, als man für sie eine Art Zwischenlösung findet, die nicht belastet. Es gibt hinter Kommoden, nahe an Heizkörpern und in schwer zugänglichen Ecken jeder Wohnung dezente, nahezu unsichtbare Lagerplätze, die – wirklich nur als eine Zwischenlösung, also ganz vorübergehend bloß! – für den Moment gute Dienste leisten.
Strategie 8: Auswärts zwischenparken. Kisten packen für Garage, Keller oder das sowieso ungenutzte Zimmer bei der Tante und Bücher dort abstellen. Mit etwas Glück vergisst man die Bücher im Exil.
Betrachten wir die Bücher als Mitbewohner und die Bücherwand als Spiegel unseres Lebens.