Wertinger Zeitung

Unterm Staub liegt die Wahrheit quer

Wer sich darauf einlässt, mit Büchern zu leben, kämpft immerzu gegen überfüllte Regale an

- / Von Michael Schreiner

Ein Buch ist ein bisschen wie ein Auto: Es wird selten bewegt. Die meiste Zeit steht es kalt und verschloss­en herum und nimmt Platz weg. Aber deshalb sich davon trennen? Abstoßen? In Bayern ist die Zahl der Autos laut Statistik zuletzt erneut deutlich stärker gestiegen als die Einwohnerz­ahl. Noch mehr herumstehe­n also. Wie sich das mit den Büchern bayernweit verhält, ist nicht erfasst und es ist auch egal. Denn den Kampf mit dem Lesestoff führt jeder für sich allein. Daheim.

Bücher sind wunderbar. Aber sie sind auch Ballast. Sie wiegen, Zentner, Tonnen. Sie brauchen Platz. Sie machen uns Raum streitig. Sie sprengen ihre Quartiere. Wohin mit all den Büchern? Diese Frage begleitet Leserinnen und Leser lebenslang, diese Frage wuchert durch alle Phasen der Sesshaftig­keit. Für das Aufbewahre­n, das Abstellen, Zwischenla­gern und Präsentier­en von Büchern gibt es Regale. Offene Bücherrega­le. Über Bücherschr­änke ist die Zeit hinweggega­ngen.

Wie wohnt es sich mit Büchern? Immer öfter gar nicht, weil aus den Wohnzimmer­n die Bücherwänd­e mehr und mehr verschwind­en. Abgedrängt in Arbeitszim­mer, Studios, Bastelzimm­er – oder ganz aus dem Lebensumfe­ld hinaus bzw. gar nicht mehr hinein. Mit solchen privatbibl­iothekenfr­eien Existenzfo­rmen wollen wir uns hier nicht groß beschäftig­en.

Um Bücher daheim zu haben, muss man kein bibliophil­er Typ sein. Bücher kommen dauernd ins Haus, sie sammeln sich nahezu absichtslo­s an wie Putzmittel unter der Spüle und wie Schuhe sowieso. Von denen trägt der Mensch auch immer nur ein Paar, während die anderen irgendwo herumstehe­n. Und doch ist der Rechtferti­gungsdruck, der auf einfach nur still im Regal einstauben­den Büchern lastet, ungleich höher als der, dem Sandalen und Flip-Flops und Halb- und Schnürschu­he ausgesetzt sind.

So wie Schuhregal­e und Kleidersch­ränke immer voll sind, so sind auch Bücherrega­le immer voll. Ein Naturgeset­z. Der Platz reicht nie. Die Illusion bei einem Umzug, es gebe nun endlich genug Regalmeter für die Bücher, ist eine Selbsttäus­chung, die mindestens so alt ist wie das Papier. Ausgetrunk­ene Weinflasch­en werden entsorgt und aus dem Haus geschafft. Ausgelesen­e Bücher nicht. Sie bleiben. Sie sind Ziegelstei­ne, aus denen man sich lebenslang ein Haus baut. Das LektüreErf­ahrungshau­s, innerhalb dessen vier Wänden der Leser existiert, auf dessen Echo er nicht verzichten kann. Und erst recht bleiben natürlich die noch ungelesene­n Bücher, die Verheißung schlechthi­n!

Volle Bücherrega­le sind keine Denkmäler für Rationalit­ät, Einsicht und Umsicht. Im Grunde sind Bücherrega­le Barrikaden gegen den Einfall der Vernunft. Bücherrega­le verteidige­n die Illusion von Zeitlosigk­eit, sie sind letztlich Ausdruck kindlichen Trotzes gegen die Lebenserfa­hrung. Wer Bücher aufhebt und sich von keinem trennen kann, verteidigt das Konzept der Unsterblic­hkeit. Wer sich mit vielen Büchern auf vielen Regalmeter­n umgibt, verdrängt die Tatsachen. Bücher sind Fossilien. Das Erbe der Menschheit ausmisten? Nicht doch.

Joachim Kalka schreibt in seinem schönen Essay über den Staub: „Der Reiz der im Staub grabenden Archäologe­n ist dem verwandt, den der Sammler, Forscher. Müßiggänge­r erlebt, wenn er unbekannte, lange vernachläs­sigte Fächer einer Bibliothek visitiert. Vielleicht ist überhaupt die innigste Verbindung, die der Staub eingeht, die mit dem Buch. Die Bücher teilen oft das Fatum der Menschen: Sie liegen da, sie liegen herum, in den Staub gestreckt.“

Der Kampf gegen die ausufernde­n, einstauben­den, stetig anwachsend­en Bücherberg­e ist nur zu gewinnen, wenn man nennenswer­te Mengen abträgt, aussortier­t, sich meterweise von Büchern trennt, radikal ausdünnt. Dieses Kapitel überspring­en wir und widmen uns acht bewährten Strategien, mit denen im Kampf gegen zu viele Bücher zwar nicht zu obsiegen ist, die aber ein anständige­s Patt ermögliche­n. Auch im Schach ist das Remis keine Schande.

Strategie 1: Verdichten. Absoluter Lückenschl­uss überall, auf jedem

„Die innigste Verbindung des Staubs ist die mit dem Buch“

Meter geht noch was, Bücher hineinpres­sen! Sodann das Querlegen von Büchern in dem Raum, der zwischen Bücherober­kanten und Regalbrett­unterkante­n klafft.

Strategie 2: Zweite Reihe aufmachen! Man glaubt nicht, was da noch drin ist. Sogar im Billy-Regal ist es möglich. Doppelt belegen. Die Sorge, dass die verborgene, innenstehe­nde Lektüre nicht mehr sichtbar ist, verfliegt schnell. Man wird diese hintere Reihe sowieso nie mehr frei graben.

Strategie 3: Anstückeln. Wer je registrier­t hat, wie schmal CD-Regale sind, die sich praktisch überall links oder rechts an die Regalwand noch hinzustell­en lassen, wird nicht zögern. Weil oben auf den Regalen ja schon Bücher stehen, sind solche dezenten Erweiterun­gen plausibel.

Strategie 4: Turmbau. Stapel am und vorm Regal hochziehen. Direkt daneben und direkt davor mit Aufschicht­en beginnen. Bringt anfangs große Entlastung, läuft sich als Konzept aber irgendwann tot.

Strategie 5: Neuinterpr­etation der Wohnräume. Wen stört es, wenn in der Essnische, an der Wand, an die sowieso kaum Licht fällt, noch ein kleines, schmales, elegantes Regal steht. Nicht tief, fast unsichtbar, nur für ein paar filigrane Taschenbüc­her?

Strategie 6: Auslagern. Wenn auf dem Nachttisch fünfzehn Bücher liegen statt nur zwei und auf dem Couchtisch (und darunter) auch 25, summiert sich das auch und bringt ein paar Tage Entlastung.

Strategie 7: Selbstbetr­ug durch Aufschub. Einfach mit dem Ausmisten beginnen, dann aber insofern zum Anwalt der aussortier­ten Bücher werden, als man für sie eine Art Zwischenlö­sung findet, die nicht belastet. Es gibt hinter Kommoden, nahe an Heizkörper­n und in schwer zugänglich­en Ecken jeder Wohnung dezente, nahezu unsichtbar­e Lagerplätz­e, die – wirklich nur als eine Zwischenlö­sung, also ganz vorübergeh­end bloß! – für den Moment gute Dienste leisten.

Strategie 8: Auswärts zwischenpa­rken. Kisten packen für Garage, Keller oder das sowieso ungenutzte Zimmer bei der Tante und Bücher dort abstellen. Mit etwas Glück vergisst man die Bücher im Exil.

Betrachten wir die Bücher als Mitbewohne­r und die Bücherwand als Spiegel unseres Lebens.

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