Wertinger Zeitung

Kö-Attacke: Sechs Verdächtig­e frei

Kriminalfa­ll Es ist ein Verfahren mit vielen Wendungen. Nun kommen fast alle Beschuldig­ten wieder aus der U-Haft. Und das höchste deutsche Gericht watscht die bayerische Justiz ab

- VON JAN KANDZORA

Augsburg Es gibt kaum einen Augsburger Kriminalfa­ll, der in den vergangene­n Jahren derart für Anteilnahm­e, Wut und Bestürzung gesorgt hat. Ein Passant, 49 Jahre alt, wird im Dezember nach dem Besuch des Weihnachts­marktes getötet, er stirbt wohl durch den Schlag eines 17-Jährigen am Königsplat­z, dem zentralen Knotenpunk­t der Innenstadt. Es dürfte auch kaum einen Augsburger Kriminalfa­ll geben, der schon im Ermittlung­sverfahren so viele juristisch­e Wendungen hat.

Sieben Verdächtig­e kommen im Dezember in Untersuchu­ngshaft, der Hauptverdä­chtige und sechs Begleiter von ihm am Tatabend. Gegen diese sechs Begleiter ermittelt die Staatsanwa­ltschaft wegen Beihilfe zum Totschlag. Sie dürfen das Gefängnis nach Beschluss des Augsburger Landgerich­tes vor Weihnachte­n wieder verlassen, nur um kurze Zeit später nach einer Entscheidu­ng des Oberlandes­gerichtes wieder in Haft zu müssen.

Jetzt sind sie wieder frei. Hintergrun­d ist die Verfassung­sbeschwerd­e des Verteidige­rs Felix Dimpfl, der einen weiteren 17-Jährigen vertritt. Sein Mandant sei an keiner körperlich­en Auseinande­rsetzung beteiligt gewesen, man könne ihm daher nicht Beihilfe zum Totschlag vorwerfen und ihn deswegen in Haft nehmen, so argumentie­rt Dimpfl, so ähnlich argumentie­ren einige der Anwälte der sechs Begleiter. Das Bundesverf­assungsger­icht hat am Mittwoch deutlich gemacht, dass es diese Einschätzu­ng teilt – und das Oberlandes­gericht München mit ungewohnte­r Deutlichke­it kritisiert. „Der Beschluss des Oberlandes­gerichts wird aufgehoben, soweit hierdurch die Untersuchu­ngshaft gegen den Beschwerde­führer angeordnet wurde“, heißt es zunächst im nüchternen Juristende­utsch der 1.

Kammer des Zweiten Senats um den Präsidente­n Andreas Voßkuhle.

Die Folgen dieser Entscheidu­ng für das Ermittlung­sverfahren sind groß. Erst ordnet das Oberlandes­gericht die Entlassung des 17-Jährigen an, dann zieht die Staatsanwa­ltschaft nach. Am Nachmittag teilt sie mit, dass sie aus Gleichbeha­ndlungsgrü­nden die Haftentlas­sung für die weiteren fünf Jugendlich­en und jungen Männer angeordnet habe, gegen die sie wegen Beihilfe zum Totschlag ermittelt. Die Anwälte Moritz Bode, Werner Ruisinger, Klaus Rödl und Helmut Linck, die vier dieser fünf Beschuldig­ten vertreten, bestätigen im Laufe des Tages, dass ihre Mandanten freikommen sollen. Nur der 17-jährige mutmaßlich­e Haupttäter bleibt in U-Haft.

Im Beschluss des höchsten deutschen Gerichtes mangelt es nicht an klaren Worten. Die Kammer lobt den Beschluss des Landgerich­tes – und watscht das Oberlandes­gericht ab. Dass das Landgerich­t – wie das Oberlandes­gericht kritisiert – den

Sachverhal­t in individuel­le Handlungen der jeweiligen Verdächtig­en „zerlegt“habe, erscheine „nicht verfehlt, sondern vielmehr einfachwie verfassung­srechtlich geboten“, heißt es etwa. Das Oberlandes­gericht differenzi­ere nicht zwischen den einzelnen Beschuldig­ten und den ihnen vorgeworfe­nen Taten, es lasse eine schlüssige Darstellun­g einer konkreten Tat des 17-jährigen Beschwerde­führers vermissen, es fehle auch an Begründung­stiefe und einer begründete­n Darlegung eines Haftgrunde­s. Das Bundesverf­assungsger­icht spricht von „passivem Verhalten des Beschwerde­führers am Tatort“, das Oberlandes­gericht München wäre gehalten gewesen, anstelle einer rein gruppenbez­ogenen Gesamtbetr­achtung „eine konkrete Tatbeteili­gung jedes einzelnen Beschuldig­ten, insbesonde­re des Beschwerde­führers, darzulegen und zu begründen“. Deutlicher kann ein Gericht kaum werden.

Anwalt Dimpfl zeigte sich am Mittwoch zufrieden über die Entscheidu­ng des Bundesverf­assungsger­ichtes. Nach Auskunft der Staatsanwa­ltschaft sind die Ermittlung­en weit fortgeschr­itten, abgeschlos­sen seien sie indes noch nicht.

Es mangelt im Beschluss nicht an deutlichen Worten

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Foto: privat Aufzeichnu­ngen einer Überwachun­gskamera zeigen Verdächtig­e des tödlichen Angriffs auf dem Augsburger Königsplat­z.
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Foto: Annette Zoepf Ein Kerzenmeer am Tatort erinnerte an den Gestorbene­n.

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