Corona und wir
Das Virus stellt unser Leben auf den Kopf. Doch das gibt uns auch Zeit zum Nachdenken: über den Wert von Politik, Expertenwissen – und Gemeinschaft
Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl hat einmal von der „Gnade der späten Geburt“gesprochen. Kohl ging es dabei um mögliche Mitschuld an den Naziverbrechen, weswegen der Begriff rasch höchst umstritten war. Aber dass jene Generationen, die während oder nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, gnädigere (Lebens-)Umstände erlebt haben, das lässt sich schwer bestreiten. In der langen Friedensperiode seither ist in unserem Land vieles undenkbar geworden, was lange Realität war: dass Menschen zum Krieg eingezogen werden, Menschen vertrieben werden, der Staat Menschen, ihre Art zu leben, vorschreibt – man überhaupt als Mensch das Gefühl hat, nicht mehr Herr über sein eigenes Leben zu sein.
Natürlich gab es turbulente Zeiten
im Nachkriegsdeutschland (und im Osten war Gängelung durch den Staat viel zu lange selbstverständlich). Doch das ganze Leben stand selten auf dem Kopf. Das droht gerade anders zu werden, daher erreicht die Verunsicherung über das Coronavirus solche Ausmaße – das noch dazu eine Gesellschaft trifft, in der es längst zum guten Ton gehört, sich auf keinen Fall etwas vorschreiben zu lassen oder gar auf etwas zu verzichten.
Ohne Zweifel: Es ist eine bedrohliche Situation, die noch weit bedrohlicher werden könnte. Aber zugleich bietet sie Gelegenheit nachzudenken, welchen Wert wir altmodisch scheinenden Kategorien wie Politik, Expertenwissen und Gemeinschaft beimessen wollen.
Zunächst zeigt die Krise ja, dass Politik und Staat, selbst die oft verpönten „Behörden“offenbar doch nicht so überflüssig sind, wie manche radikalen Staatskritiker tun. Auf einmal werden selbst obskure Landesämter überlebenswichtig wichtig, plötzlich verfolgen gar junge Leute Pressekonferenzen von Politikern so gespannt, als handele es sich um Influencer. Natürlich machen die Politiker dabei nicht immer eine gute Figur. Aber es ist ermutigend, dass von den Bürgern offenbar gutes Regieren als Voraussetzung für die Überwindung der Krise angesehen wird.
Kanzlerin Angela Merkel, oft gescholten für fehlende Führungsstärke, lieferte einen starken Auftritt. Indem sie gar nicht so tat, als könne man dem Coronavirus allein mit strammem „Durchregieren“so richtig Angst einjagen. Sondern weil sie nüchtern Fakten aussprach, etwa dass bis zu 70 Prozent der Deutschen infiziert werden könnten.
Die Kanzlerin gab sich zudem größte Mühe, auf „Experten“zu verweisen. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit sicherte ihr Jubel in internationalen, vor allem amerikanischen Medien. Weil diese am besten wissen, wie offen mittlerweile Expertenwissen, das nicht zur eigenen Ideologie passt, verspottet wird. In den USA forschen die weltbesten Mediziner, doch der Mann im Weißen Haus hat sich einfach selbst zum weltgrößten Experten erklärt. So weit ist es bei uns nicht. Aber auch uns steht es gut an, den Wert von Experten – die auch Zweifel und Fehler einräumen, statt nur Gewissheiten zu verkünden – hochzuhalten.
Und dann ist da noch der altmodische Appell für einen neuen Gemeinschaftssinn. Sehr viele Deutsche werden mit Corona klarkommen, selbst wenn sie infiziert werden. Wir müssen nicht alle Angst haben. Aber wir werden so gut wie alle eine Zeit lang unser Leben ändern müssen, um das Virus zu besiegen und (gerade ältere) Menschenleben zu retten.
Dabei können die Jüngeren auch jene Solidarität zeigen, die sie in der Klimadebatte von älteren Generationen fordern. All das dürfte anstrengend werden, teuer, beängstigend. Aber es kann zugleich wertvoll sein.
Es ist eine bedrohliche Situation