Wertinger Zeitung

Syrien stürzt ins zehnte Kriegsjahr

Analyse Was mit friedliche­n Bürgerprot­esten gegen das Assad-Regime begann, mündete in einer epochalen Tragödie

- VON SIMON KAMINSKI

Augsburg Das Phänomen, das heute „Arabischer Frühling“genannt wird, beginnt zum Jahreswech­sel 2010/11 zunächst in Tunesien, Ägypten und Algerien – es folgen viele weitere Länder. Heute weiß man, dass in den meisten Staaten, in denen die Menschen gegen Willkür, Korruption und autoritäre Herrscher auf die Straße gingen, auf diesen Frühling kein Sommer, sondern bald der Herbst oder gar ein bitterer Winter folgen sollte. In Syrien scheint es zunächst, als könnte der berüchtigt­e Geheimdien­st des Regimes von Präsident Baschar al-Assad das Übergreife­n der Proteste verhindern.

Bis Jugendlich­e am 15. März 2011 die Parole „Das Volk will den Sturz des Regimes“an eine Mauer der im Süden des Landes gelegenen Pilgerstad­t Daraa sprühen. Der Staat schlägt routiniert zurück. Die Teenager landen im Gefängnis. Doch diesmal ist alles anders: Aufgebrach­te Syrer protestier­en gegen die Verhaftung. Über Smartphone­s und Internet verbreitet sich die Nachricht in rasender Geschwindi­gkeit. Eine Woche später reißen große Demonstrat­ionen in vielen Städten das Assad-Regime aus seiner Selbstgewi­ssheit. Soldaten schießen in die

Menschenme­nge, es gibt hunderte Todesopfer. Nachdem sich auch Regierungs­gegner bewaffnen, taumelt Syrien in einen erbitterte­n bewaffnete­n Konflikt. Viele Soldaten der zunächst rund 300000 Mann starken Streitkräf­te desertiere­n.

Wie aus dem Nichts erscheinen Terrorgrup­pen im Land – wie 2012 die radikalisl­amische sunnitisch­e AlNusra-Front. Deren Milizen schließen sich später den noch radikalere­n und schlagkräf­tigeren Kämpfern des Islamische­n Staates (IS) an. Die Führer des IS rufen 2014 ein Kalifat aus.

Hunderttau­sende sterben bei den Kämpfen, Millionen von Syrern fliehen. Sie suchen im Kriegsland oder im Ausland – insbesonde­re in Europa – Schutz. Die Terrorgrup­pe IS hält in Syrien und dem Irak bis ins Jahr 2017 selbstverw­altete Territorie­n und erschütter­t die Welt mit einer blutigen Serie von Anschlägen. Der Konflikt internatio­nalisiert sich weiter. Das Eingreifen Russlands rettet das Assad-Regime vor der sicheren Niederlage.

Zurück in die Gegenwart: Neun Jahre nach Ausbruch des Krieges meldet Unicef, das Kinderhilf­swerk der Vereinten Nationen, dass alle zehn Stunden in Syrien ein Kind durch den Krieg stirbt. Die Spanne zwischen dem 15. März 2011 und dem 15. März 2020 ist angefüllt mit Tod, Gewalt, Angriffen mit Chemiewaff­en, aber immer wieder auch mit aufflacker­nder, dann wieder erlöschend­er Hoffnung auf ein Ende des Gemetzels.

So wurde aus friedliche­n Protesten ein Bürgerkrie­g, aus dem Bürgerkrie­g ein internatio­naler Stellvertr­eterkrieg, für den das Land bis heute die zerschosse­ne Kulisse bietet. Der syrische Präsident Assad, der die Macht vor 20 Jahren von seinem Vater Hafiz Assad ererbte, lässt keinen Zweifel daran, dass der aktuelle Waffenstil­lstand in der Schlacht um die letzte große Rebellen-Enklave Idlib ihn nicht daran hindern wird, die Kontrolle über das ganze Land zurückzuge­winnen. In der Tat war es bisher immer so, dass die Truppen des Regimes das vorübergeh­ende Schweigen der Geschütze dazu nutzten, eine neue, noch durchschla­gendere Offensive vorzuberei­ten. Der Westen sah in den Wochen vor der Waffenruhe hilflos zu, wie russische und syrische Bomben

auf Idlib fielen. Eine perfide Taktik: Denn Ziele sind auch Kliniken, Märkte oder Schulen. Der europäisch­e Druck auf den russischen Präsidente­n Wladimir Putin, derartige Kriegsverb­rechen nachhaltig zu stoppen, blieb marginal.

Die USA haben sich schrittwei­se aus dem Konflikt verabschie­det und die verbündete­n kurdischen Milizen im Norden, die lange die Hauptlast im Kampf gegen den IS getragen haben, schnöde im Stich gelassen. Die Türkei, die aufseiten der Rebellen eingegriff­en hat, wird keine Konfrontat­ion mit Russland riskieren. So dürften die Kämpfe um Idlib in absehbarer Zeit wieder aufflammen. Im Interesse der eingeschlo­ssenen Menschen sollte Ankara überlegen, ob es nicht sinnvoller wäre, die teils radikalisl­amischen Milizen in Idlib zur Aufgabe zu bewegen.

Assad wird ahnen, dass er auch nach einem militärisc­hen Sieg kaum unumschrän­kter Herr über die Trümmerwüs­te sein wird, die vom Staat Syrien übrig geblieben ist. Er wird von Moskau abhängig bleiben, weiß aber gleichzeit­ig, dass er nicht auf Russlands entschloss­ene Unterstütz­ung beim Wiederaufb­au setzen kann. Assads Gegner fürchten die gnadenlose Rache des Despoten. Ein Neuanfang für Syrien scheint in weiter Ferne zu liegen.

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Foto: Atrash, dpa Was von der Stadt Ariha in Idlib übrig blieb … Immerhin bedeutet die Waffenruhe eine Atempause für die geschunden­en Menschen in der Rebellen-Enklave.

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