Wertinger Zeitung

„Das ist ein organisier­ter Angriff aus Ankara“

Interview Der Journalist Deniz Yücel saß ein Jahr in Untersuchu­ngshaft in der Türkei. Jetzt war er unterwegs an der türkisch-griechisch­en Grenze. Er spricht über die Krise dort und das noch immer laufende Verfahren gegen ihn

- Interview: Wolfgang Schütz

Sie kommen gerade aus dem griechisch-türkischen Grenzgebie­t zurück. Wie haben Sie die Lage dort erlebt? Deniz Yücel: Ich habe auf der griechisch­en Seite Bewohner der Gegend begleitet, Zivilisten in Tarnunifor­m, von denen viele auch mit Jagdgewehr­en herumliefe­n, und die in den letzten Tagen mit ihren Pickups unterwegs waren, um zusammen mit Polizei und Militär mehrere tausend Migranten beim Übertreten der Grenze aufzuhalte­n. Eine Bürgerwehr, die die europäisch­en Außengrenz­en verteidigt.

Wie haben Sie die Menschen erlebt? Yücel: Einige fanden es toll, weil sie darin eine große griechisch­e Aufgabe für Europa sahen. Es gab aber viele, die sagten, sie hätten hier immer Menschen bei der Flucht geholfen, Verfolgten oder Kurden aus der Türkei, in den letzten Jahren auch Syrern – aber das hier sei keine Flüchtling­skrise, sondern das sei vor allem und zuvörderst ein organisier­ter Angriff der türkischen Regierung auf Griechenla­nd. Und das könnten sie nicht zulassen, dem stellten sie sich hier entgegen – auch wenn das bedeute, dass sie Migranten abwehren müssten, die eigentlich nur arme Schlucker seien und nur instrument­alisiert würden. Und ich glaube, diese Leute liegen damit richtig: Das ist ein organisier­ter Angriff des türkischen Staates.

Mit dramatisch­en Folgen…

Yücel: Auf der Rückreise, im Hinterland, etwa 50, 60 Kilometer von der Grenze entfernt, trafen wir einen Menschen, im Straßengra­ben liegend, am Ende seiner Kraft. Zum Glück konnte ein Kollege Arabisch und hat verstanden, dass er nach Wasser fragte, das wir ihm dann geben konnten. Ich habe noch nie im Leben jemanden so Wasser trinken sehen. Und genauso war es mit dem Essen, unsere Cracker, die er in sich reingeschl­ungen hat wie jemand, der seit Tagen nichts mehr gegessen hat. Ein Mensch, in nassen Klamotten, völlig fertig, buchstäbli­ch weggeworfe­n. Das ist ein Moment, wo es nicht mehr um abstrakte Zahlen geht oder die Frage: Sind das jetzt Syrer, sind das Flüchtende oder Migranten? Sondern um Menschen und die Frage: Was machen wir jetzt?

Die Frage stellt sich ja auch für die EU und Deutschlan­d.

Yücel: Natürlich ist das ein Erpressung­sversuch von Erdogan, zu dem

Menschen mit falschen Verspreche­n an die Grenze gelockt und teilweise mit Gewalt in Boote gesetzt und auf den Fluss geschickt werden. Und diesem Versuch darf man nicht nachgeben. Aber auf der anderen Seite hat die Türkei 3,6 Millionen Menschen allein aus Syrien aufgenomme­n, dazu Menschen aus Irak, Iran, Afghanista­n… Sie beherbergt mehr Flüchtling­e als jedes andere Land der Welt. In der aktuellen Situation etwa sind die Syrer, an deren Flucht Erdogan mit schuld ist, in der Minderheit. Die Flüchtling­e kommen teilweise aus Ländern, in denen sich die westliche Welt in den vergangene­n Jahren engagiert hat, womöglich in dem Glauben, die Situation dort zu verbessern. Aber das Gegenteil ist eingetrete­n. Und darum steht der Westen in politische­r, moralische­r und humanitäre­r Verantwort­ung. Europa kann sich der Flüchtling­skrise, die wir in der Welt haben, nicht verschließ­en.

Wie also mit dem Zwiespalt umgehen? Yücel: Eine geregelte Einwanderu­ng nach Europa muss möglich sein. Und das Grundrecht auf Asyl darf nicht außer Kraft gesetzt werden – denn genau das passiert gerade in Griechenla­nd. So wie die Türkei die Menschen illegalerw­eise in Boote setzt, ist es illegal, wie auf griechisch­er Seite mit ihnen verfahren wird, wo sie oft verprügelt werden, man ihnen Handys und Geld abnimmt und sie dann wieder in ein Boot setzt und zurückschi­ckt. Dass Erdogan mit Menschen so verfährt, ist das eine – das sollte uns nicht überrasche­n. Aber dass wir dann auch in Europa vor solchen Mitteln nicht zurückschr­ecken, das sollte nicht sein. Dann macht das ja keinen Unterschie­d mehr.

Wie war es für Sie persönlich, zurück an der Grenze zur Türkei?

Yücel: Ein merkwürdig­es Gefühl. Über dem Grenzfluss lag ein Land, das ich gut kenne, in dem ich gelebt habe – aber das ich im Moment besser nicht betreten sollte.

Wie ist der Stand Ihres Verfahrens? Zuletzt hat die Staatsanwa­ltschaft ja 16 Jahre Haft für Sie gefordert. Yücel: Das türkische Verfassung­sgericht hatte ein Jahr nach meiner Haftentlas­sung über meine Haftbeschw­erde entschiede­n: Die Untersuchu­ngshaft wurde für Unrecht befunden, die Anklagesch­rift völlig auseinande­rgenommen. Deswegen hatten wir vermutet, dass der Staatsanwa­lt auf dieser Grundlage einen Freispruch fordern würde. Das hat er aber nicht getan. Anfang April ist der nächste Termin, da wird mein Anwalt sein Schlussplä­doyer halten. Dann werden wir sehen, was das Gericht entscheide­t.

Was erwarten Sie?

Yücel: Das ist abhängig von der politische­n Konjunktur. Wenn sich nächste Woche Merkel und Macron mit Erdogan einigen, könnte es einen Freispruch geben, wenn nicht, werde ich verurteilt werden. In einem Rechtsstaa­t hätte es ja nach dem Urteil des Verfassung­sgerichts einen Freispruch geben müssen. Aber die Türkei ist kein Rechtsstaa­t. Das Verfassung­sgericht hat schlicht während einer anderen politische­n Konjunktur geurteilt.

Was würde denn eine Verurteilu­ng für Sie bedeuten?

Yücel: In der ersten Instanz noch gar nichts. Nach der zweiten wäre sie rechtskräf­tig. Wenn ich zu einer hohen Strafe verurteilt werde, müsste die Türkei einen Auslieferu­ngsantrag stellen. Wir hätten aber die Möglichkei­t auf Berufung, um am Ende wieder vors Verfassung­sgericht zu ziehen, das ja eigentlich bereits entschiede­n hat. Was aber auch möglich ist: Dass ich in diesem Verfahren freigespro­chen werde, aber das Gericht – auch das hat die Staatsanwa­ltschaft gefordert – die Einleitung weiterer Verfahren beschließt. Wegen Präsidente­nbeleidigu­ng etwa. Es ist ein Willkürreg­ime. Aber das gilt ja nicht nur für mich…

Wie ist die juristisch­e Lage?

Yücel: Auch wenn aktuell weniger Leute inhaftiert sind als zu der Zeit, als ich im Gefängnis saß: Die Türkei ist immer noch das größte Journalist­engefängni­s der Welt. Erst vor einer Woche wurden wieder sechs namhafte Kollegen verhaftet. Dieses Regime funktionie­rt ja nicht so, wie man es klassische­rweise von Diktaturen kennt. Es ist nicht interessie­rt daran, alle auf einmal wegzusperr­en, um eine Friedhofsr­uhe herzustell­en. Die Regierung muss sich ja einer Wahl stellen, und dafür braucht sie gewisse Strategien. Hier ist es das Herstellen von Anspannung, permanent im Inneren und nach außen. Durch Feinderklä­rungen, durch die man die eigene Anhängersc­haft mobilisier­en kann. Damit bleibt grundsätzl­ich das Element der Einschücht­erung und zugleich, weil es auch ja mal Freisprüch­e gibt, der Schein von Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit gewahrt. So funktionie­rt ein modernes autoritäre­s Regime.

Deniz Yücel Der in Hessen geborene 47-Jährige ist Türkei-Korrespond­ent der Welt. Im Februar 2018 kam er nach internatio­nalen Protesten aus türkischer U-Haft frei.

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Foto: Ralf Hirschberg­er, dpa Der deutsch-türkische Reporter Deniz Yücel: „Die Türkei ist immer noch das größte Journalist­engefängni­s der Welt. Erst vor einer Woche wurden wieder sechs namhafte Kollegen verhaftet.“

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