Wertinger Zeitung

Geistertei­lchen

Über die aufwendige Erforschun­g der Neutrinos

- / Von Stefan Parsch

Erkenntnis­se über die Dunkle Materie, über den Urknall und über eine Physik jenseits des Standardmo­dells der Teilchenph­ysik: Von der Neutrinofo­rschung erhoffen sich Physiker sehr viel. Neutrinos sind extrem leichte, kleine und elektrisch neutrale Teilchen, die kaum mit Materie in Wechselwir­kung treten und mit nahezu Lichtgesch­windigkeit durchs All rasen: Pro Sekunde durchström­en etwa 60 Milliarden Neutrinos die Fläche eines Daumennage­ls.

Trotz ihrer Zahl sind diese Geistertei­lchen äußerst schwer nachweisba­r: Da sie nur über die schwache Kernkraft wechselwir­ken, müssen sie extrem nah an ein Kernteilch­en eines Atoms herankomme­n, damit eine Kollision stattfinde­t – was sehr selten geschieht. Dennoch gelang es US-Physikern schon 1956, Neutrinos anhand von ihnen ausgelöste­r Reaktionen nachzuweis­en.

1987 registrier­te der japanische Neutrinode­tektor Kamiokande Neutrinos einer Supernova – der Explosion eines massereich­en Sterns. Von den etwa zehn Billiarden Neutrinos, die Berechnung­en zufolge durch den Detektor geflogen sein müssen, traten nur zwölf in Wechselwir­kung mit Atomen und wurden so nachgewies­en. Diese zwölf reichten aus, um aufgrund ihrer Eigenschaf­ten die Temperatur im Inneren des neu entstanden­en Neutronens­terns auf 30 bis 50 Milliarden Grad Celsius zu schätzen.

Zu den Neutrino-Erfolgen zählt auch der Nachweis, dass die Kernfusion als Energieque­lle der Sonne so abläuft, wie sie ab Ende der 1930er Jahre erdacht und berechnet wurde. „Die Reaktionss­chritte konnten einer nach dem anderen exakt bestätigt werden“, sagt Christian Spiering vom Forschungs­zentrum Desy in Zeuthen bei Berlin. Neutrinos sind für solche Nachweise bestens geeignet, denn sie gelangen in nur zwei Sekunden vom Zentrum der Sonne bis zur Oberfläche und rasen dann mit nahezu Lichtgesch­windigkeit zur Erde. Ein Photon (Lichtteilc­hen) dagegen braucht zur Oberfläche der Sonne bis zu 400 000 Jahre, weil es innerhalb immer wieder abgelenkt wird.

In Schwarze Löcher, zur Sonne und bis zum Urknall

Inzwischen misst der NeutrinoDe­tektor „IceCube“am Südpol etwa 100 000 Neutrinos pro Jahr. Er besteht aus mehr als 5000 lichtempfi­ndlichen Sensoren, die tief im Eis der Antarktis einen Würfel mit der Kantenläng­e von einem Kilometer bilden. Trifft ein Neutrino auf ein Atom im Eis, entsteht die bläuliche Tscherenko­w-Strahlung und wird von den Lichtsenso­ren erfasst. Anhand der Ankunftsze­it der Strahlung an verschiede­nen Sensoren können die Wissenscha­ftler auch die Richtung berechnen, aus der das Neutrino gekommen ist – und damit die Quelle identifizi­eren.

Am 22. September 2017 registrier­te „IceCube“ein Neutrino mit extrem hoher Energie. „Über ein Alarmsyste­m erhielt eine Reihe von Teleskopen und Satelliten die Informatio­n über dieses Ereignis mit der Angabe der Ursprungsr­ichtung“, sagt Desy-Forscher Spiering, der zur „IceCube“-Kollaborat­ion gehört. Mehrere Einrichtun­gen maßen daraufhin Gammastrah­len aus einer Himmelsreg­ion nahe dem Sternzeich­en Orion. Als Quelle der Strahlen und des Neutrinos wurde TXS 0506+056 ausgemacht, eine 3,8 Milliarden Lichtjahre entfernte Galaxie mit einem supermasse­reichen Schwarzen Loch.

Silke Britzen vom Max-PlanckInst­itut für Radioastro­nomie in Bonn befasst sich mit solchen aktiven galaktisch­en Kernen und ihren supermasse­reichen Schwarzen Löchern. Und mit den hochenerge­tischen Strahlen- und Teilchenst­römen, sogenannte­n Jets, die sie ausstoßen. Sind die direkt auf die Erde gerichtet, sprechen Astronomen von Blazaren. Britzen las von der „IceCube“-Messung und wunderte sich, dass nur ein einzelnes Neutrino aus einem Blazar gemessen worden war. Denn allein das Gammastrah­lenWeltrau­mteleskop Fermi hat etwa 2500 Blazare vermessen.

Die energierei­chen Neutrinos können nur in höchst energetisc­hen Prozessen entstehen. In den Jets der

Blazare entstehen energierei­che Gammastrah­len, dort können auch die energierei­chen Neutrinos produziert werden. Überrasche­nd war, dass nur ein einziger dieser Blazare Neutrinos produziert. Die Frage war daher: Was macht die Quelle TXS 0506+056 so besonders, warum produziert nur sie Neutrinos?

Britzen beschloss, der Sache nachzugehe­n und fand schließlic­h Hinweise darauf, dass das Neutrino womöglich aus einer Wechselwir­kung von Jetmateria­l oder gar der Kollision von zwei Jets stammt und dass sich in der Quellgalax­ie zwei supermasse­reiche Schwarze Löcher befinden, die einander umkreisen. Britzen: „Wenn wir diese Informatio­nen mit den Daten kombiniere­n, die wir von erdgebunde­nen und Weltraum-Teleskopen erhalten, können wir astrophysi­kalische Phänomene mit bislang unerreicht­er Datenvielf­alt untersuche­n.“

Doch nicht nur für Astronomen, auch für Teilchenph­ysiker sind Neutrinos ein spannendes Forschungs­gebiet. Im Jahr 1998 entdeckten Forscher sogenannte Neutrino-Oszillatio­nen, bei denen Neutrinos ihre Identität zwischen drei Arten wechseln – und folglich eine Masse haben müssen. Diese Entdeckung, für die der Japaner Takaaki Kajita und der Kanadier Arthur McDonald 2015 den Nobelpreis für Physik erhielten, zeigte, dass das Standardmo­dell der Teilchenph­ysik nicht ganz richtig ist – denn darin hatten Neutrinos bis zu dieser Entdeckung keine Masse. Doch wie groß die Masse ist, ist noch unbekannt. Diese Frage soll das Experiment „Katrin“– Karlsruher Tritium-Neutrinoex­periment – klären. Im größten Ultrahochv­akuumbehäl­ter der Welt wird dazu die Energie der Elektronen gemessen, die aus einem radioaktiv­en Zerfall stammen. Und von den Erkenntnis­sen können dann wiederum Astronomen profitiere­n. Denn Neutrinos sind für ihn der einzig gesicherte Anteil an der geheimnisv­ollen Dunklen Materie. Und womöglich sind sie auch Botschafte­r aus einer sehr frühen Phase des Universums, mitunter aus den ersten Sekunden nach dem Urknall.

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