Der amerikanische Risikopatient
Ein überfordertes Gesundheitswesen und ein Präsident, der die Gefahren lange heruntergespielt hat: Warum die Corona-Krise die USA besonders hart trifft
Als das Empire State Building 1930/31 in atemberaubendem Tempo bis unter die Wolken wuchs, war das ein eindrucksvolles Zeichen für Optimismus und Pioniergeist der amerikanischen Einwanderernation. 90 Jahre später blicken die New Yorker wieder auf das 381 Meter hohe ArtDeco-Gebäude. Seine Spitze ist nachts rot erleuchtet – ein Dank an die Rettungskräfte, die bis zur Erschöpfung im Einsatz sind. Doch für viele wirkt es wie ein SOS-Signal.
Amerika ist ein Land der Superlative. Und es scheint, dass die USA auch in der Corona-Pandemie auf dramatische Weise alle Rekorde brechen. In den weltweiten Statistiken haben sie Italien und China längst überholt, gleichzeitig bahnt sich eine monströse wirtschaftliche und soziale Krise an: Rund zehn Millionen Amerikaner sind alleine in den vergangenen zwei Wochen arbeitslos geworden.
Natürlich: Auch anderswo wurde die flächenbrandmäßige Ausbreitung des tückischen Virus lange unterschätzt. Auch anderswo gibt es zu wenig Masken. Aber die Diskrepanz zwischen der Ausbreitung der Lungenkrankheit und der hilfloschaotischen Reaktion eines völlig überforderten Gemeinwesens in den USA ist alarmierend. Gravierende strukturelle Defizite, die tief greifende Spaltung der Gesellschaft und ein narzisstischer Präsident an der Spitze machen das Land mit seinen 320 Millionen Einwohnern zu einem einzigen Risikopatienten für die Pandemie.
Wie unter einem Brennglas lässt sich das Drama schon in New York beobachten, wo die Toten inzwischen in Leichensäcken von Gabelstablern auf Kühllaster verladen werden. Erst in zwei bis drei Wochen wird hier mit dem Höhepunkt der Krise gerechnet, doch schon in wenigen Tagen dürften alle Intensivbetten belegt und alle Beatmungsgeräte vergeben sein. Dann werden die Ärzte im reichsten Land der
Welt auswählen müssen, welches Leben sie zu retten versuchen und welche Schwerkranken sie sterben lassen – ein furchtbarer Gedanke.
Gleichzeitig stehen fiebrige Menschen stundenlang für einen Test an, Arbeitslose erreichen erst nach Tagen einen Ansprechpartner beim Amt. Auf Hilfe warten sie viel länger, und mit dem Job sind sie meist auch ihre Krankenversicherung
los. Das alles ist kein Zufall, sondern Folge einer Ideologie, die ganz auf individuelle Freiheit setzt und den Staat brutal abgemagert hat. Doch angesichts einer unvorhersehbaren Katastrophe wirkt der Appell an die Eigenverantwortung hohl und provoziert zudem ein teilweise bizarres Echo: Nicht nur das Toilettenpapier ist in den USA ausverkauft. Auch die Waffenkäufe haben sich fast verdoppelt. Der Immunologe Anthony Fauci braucht inzwischen Polizeischutz. Evangelikale Prediger warnen, dass mehr Leben durch Abtreibung als durch die Pandemie vernichtet würden.
An diesem Chaos trägt Donald Trump erhebliche Mitschuld. Erst hat er fahrlässig lange die Gefahren des Virus heruntergespielt, fragwürdige Therapien propagiert, falsche Hoffnungen geschürt und den Schwarzen Peter an die politischen Gegner abzudrücken versucht. Nun inszeniert er die dramatische Gesundheitskrise wie eine bizarre Ego-Show. Mal brüstet er sich mit seinen Einschaltquoten, mal mit der Zahl seiner Facebook-Follower.
Ein paar Meilen vom Empire State Building entfernt ankert seit ein paar Tagen die USNS Comfort. Trump hat das Hospitalschiff mit 1000 Betten persönlich nach New York geschickt, doch die militärischen Vorschriften verbieten die Aufnahme von Patienten mit ansteckenden Krankheiten. Während die Hospitäler der Metropole zusammenbrechen, sind an Bord derzeit ganze 20 Betten belegt. Plastischer kann man den amerikanischen Offenbarungseid kaum illustrieren.
Mit dem Job ist häufig auch die Versicherung weg