Wertinger Zeitung

Eine harte Prüfung

Bildung In der kommenden Woche beginnt das Abitur. Kaum zu glauben nach dem Chaos der vergangene­n Corona-Wochen. Eine Geschichte über Achterbahn­fahrten der Gefühle, beerdigte Sommerträu­me und die sehr merkwürdig­e Rückkehr ins Klassenzim­mer

- VON SARAH RITSCHEL

Augsburg/Schrobenha­usen Es ist ein frühlingsh­after, sonniger Mittwoch, als Hanna Schleifer ihre Pläne begräbt. Um ihre Noten fürchtet sie nicht, als Kultusmini­ster Michael Piazolo an jenem 18. März die bayerische­n Abiturprüf­ungen verschiebt. Die 18-Jährige aus Augsburg ist eine gute Schülerin, ihr AbiSchnitt wird in Ordnung sein, ohne und mit Corona.

Nein, Hanna Schleifer bangt um den Sommer ihres Lebens. Um die Monate, die alles neu machen. Sie wollte nach den Prüfungen ihren Führersche­in schaffen, die Freiheit feiern, bevor der Ernst des Lebens beginnt. Sie wollte nach Frankreich, nach Italien, mit dem ganzen Jahrgang zum Campen, irgendwo am Meer. „Jetzt können wir uns nur leider darauf einstellen, dass keiner dieser Pläne klappen wird.“Danke, Corona. Wochenlang waren wegen des Virus alle Schulen in Bayern zu, auch für die Zwölftkläs­sler. Und während ihre Lektürelis­ten voll sind von großen Werken über Selbstentf­altung, die Erlebnisge­sellschaft und das Erkunden der Welt, saßen sie eingesperr­t zu Hause und fragten sich, ob der Ernst des Lebens nicht irgendwie schon begonnen hat. Auf Standby sein und nicht wissen, wie die Geschichte weitergeht: Was macht das mit einem Schüler? Es verunsiche­rt, es nervt, aber es führt auch zu fast übersinnli­chen Erfahrunge­n – sagen jedenfalls die beiden Abiturient­innen, die unsere Redaktion in den letzten zwei Monaten ihres Schulleben­s begleitet hat.

Eigentlich sollte der größte Stress jetzt schon vorbei sein. Doch statt am 30. April starten die Abiturprüf­ungen jetzt am 20. Mai. Auch für Anna Lauber, die das Gymnasium im oberbayeri­schen Schrobenha­usen besucht. Die 19-Jährige – AbiFächer Deutsch, Mathe, Musik, Latein, Religion – hat schon in den Faschingsf­erien mit dem Lernen begonnen. Dass ihre Prüfungen vertagt sind, hat sie über WhatsApp in ihrer Jahrgangss­tufen-Gruppe erfahren. Doch weil in Corona-Zeiten selbst Virologen jeden Tag ihre Aussagen relativier­en müssen, traut Anna Lauber der neuen Terminsich­erheit erst mal nicht. Denn Bayerns Kultusmini­ster – ist es nun psychologi­sch ungeschick­t oder einfach nur ehrlich – schließt an diesem 18. März „weitere Veränderun­gen im Ablauf der Abiturprüf­ung 2020“nicht aus.

Der Lernfrust kommt, auch weil zwischendu­rch noch die Nachricht von einer kompletten Abi-Absage in Kiel hineinplat­zt. Im Nachhinein entpuppt sich das als falsch. Doch Anna Laubers Gedanken kreisen um die Frage: „Ja wieso lern’ ich eigentlich, wenn man noch nicht mal weiß, wann das Abi ist und ob wir es hundertpro­zentig schreiben?“

Zu diesem Zeitpunkt sind es noch etwas mehr als sechs Wochen bis zum ersten Test in Deutsch. Die Gymnasiast­en in Hessen etwa haben ihr Abi da schon längst hinter sich – Corona zum Trotz. Anna Lauber findet die Schulschli­eßungen in Bayern dennoch „nachvollzi­ehbar und leider notwendig“. Sie ist sich sicher: „Sonst würde die Zahl noch um mehrere tausend Corona-Infizierte steigen.“Die Sicherheit aller ist wichtiger als die Unsicherhe­it des Einzelnen, so sehen das viele.

Hanna Schleifer fühlt sich trotzdem irgendwie betrogen. Es ist jetzt der 7. April – und statt sich mit ihren Freunden vom St.-Anna-Gymnasium vorzuberei­ten, lernt sie einsam daheim. „Eigentlich kennt man es von älteren Jahrgängen, dass im gemeinsame­n Abi-Stress die besten Erinnerung­en entstehen und man noch mal richtig viel Spaß hat, bevor alle in verschiede­ne Richtungen gehen.“Doch für die älteren Jahrgänge war Corona nur ein uncooles Bier und keine ansteckend­e Krankheit.

Jetzt schwankt ein Fixpunkt, auf den man zwölf Jahre lang hinarbeite­t. Denn das Abitur ist heute mehr als ein Zeugnis. Es ist das größte Event eines jungen Lebens.

BeimAbi-Ballfängte­sjaschon an. Noch vor 15, 20 Jahren dachte niemand darüber nach, woanders als in der Aula oder der Schulturnh­alle zu feiern. Der Sportlehre­r machte die Fotos und danach legte ein DJ auf, dessen Namen keiner mehr parat hat. Heute erinnern Abi-Bälle eher an die Oscar-Verleihung. Rebellisch in zerschliss­enen Jeans nimmt fast keiner mehr sein Zeugnis entgegen.

Und dann die Abi-Reise: Profession­elle Agenturen überbieten sich mit Angeboten, all inclusive nach Mallorca, Lloret de Mar oder Las Vegas. Überall dahin, wo jetzt Dauersperr­stunde herrscht.

„Es geht um Inszenieru­ng.“So erklärte die Augsburger Kulturwiss­enschaftle­rin Margaretha Schweiger-Wilhelm in unserer Zeitung einmal den Kult ums Abitur. Sie arbeitet im Münchner Amerikahau­s und hat zu Übergangsr­iten in verschiede­nen Lebensphas­en geforscht. Gerade Abi-Bälle würden heute mehr denn je der Selbstverg­ewisserung dienen. „Sie sollen zeigen: Ich habe etwas geschafft, mir steht die Welt offen.“Aber heuer ist die Welt dummerweis­e dicht.

Das setze den Schülern zu, sagt Schweiger-Wilhelm jetzt. Es seien „vor allem die Enttäuschu­ng und die Trauer darüber, seinen Erfolg nicht teilen und nicht feiern zu können. Die Inszenieru­ng und die performati­ven Elemente, die viele Übergangsr­ituale ausmachen, müssen ausfallen.“Damit fühlt sich das Abi diesmal eben auch nicht wie der Aufbruch in ein neues Leben an.

In den USA habe man eine Lösung für das Problem gefunden, sagt die Amerika-Expertin. „Dort wird sich unter anderem der ehemalige Präsident Barack Obama an einer virtuellen, landesweit­en Abschlussf­eier für alle High Schools beteiligen.“Graduate together – zusammen Abschluss machen – heißt die Aktion, die live im Fernsehen und im Netz gezeigt wird. Ein Modell für Deutschlan­d, eine Abschlussr­ede von Kanzlerin Angela Merkel? Sie würde sicher die richtigen Worte finden – so wie sie 2019 in einer Rede für die Absolvente­n der USElite-Universitä­t Harvard treffend formuliert­e: „Nichts ist gewiss, aber alles ist möglich.“

Hanna Schleifer und ihre Freunde sehen bisher vor allem den ersten Teil des Merkel-Satzes bestätigt. Mitte April, einen Monat vor den Prüfungen, sind sie zunehmend genervt. Noch immer weiß niemand, wann sie wieder in die Schule dürfen. Der Kontakt mit den Lehrern funktionie­rt übers Internet unterschie­dlich gut. Die Deutsch-Lehrkraft beantworte­t Mails mit einer ganzen Liste an Fragen innerhalb einer Stunde. Die Antwort eines zweiten Pädagogen lässt selbst nach Tagen noch auf sich warten. Hanna Schleifer lernt gerade für eine Klausur in Geometrie, von der sie später erfährt, dass sie sie nie schreiben wird. Denn das Kultusmini­sterium wird alle verbleiben­den Schulaufga­ben streichen.

16. April. Jetzt ist immerhin eines klar: Die Schulen bleiben mindestens drei weitere Wochen zu. Doch die Abschlussk­lassen dürfen an allen Schularten ab dem 27. des Monats wieder lernen. Endlich Zeit, sich gezielt vorzuberei­ten? Nein. Im Internet ploppen immer mehr Petitionen auf, in denen Schüler die Absage aller Prüfungen fordern oder die Rückkehr an die Schulen ganz allgemein anprangern. Sie wollten keine „Versuchska­ninchen der Regierung sein“, heißt es in einer davon. Die erfolgreic­hsten Petitionen unterschre­iben an die 150000 Leute – auch Schüler aus Augsburg.

Ein paar Tage später, am 22. April, lädt der blauhaarig­e Youtuber Rezo, Jahrgang 1992, ein neues Video hoch. Er schießt gegen die Entscheidu­ng der Kultusmini­sterkonfer­enz, dieses Jahr Prüfungen zu schreiben, verweist auf Ansteckung­srisiko, psychische­n Druck, Horror-Toiletten und nennt seinen Beitrag „Wie Politiker momentan auf Schüler scheißen“. 1,8 Millionen Menschen sehen sich ihn an.

Rezo gilt seit seinem frisch mit dem Nannen-Preis ausgezeich­neten Video „Die Zerstörung der CDU“als Stimme der jungen Generation. Für die beiden Abiturient­innen Hanna Schleifer und Anna Lauber spricht er nicht. „Ich bin sehr glücklich, dass wir wieder in die Schule dürfen. Vor allem, weil das heißt, dass ich – wenn auch auf Distanz – endlich meine Freunde wiedersehe­n darf“, sagt die Augsburger­in. Was es noch bedeutet: Das Abitur findet wie geplant am neuen Termin statt. Noch mal eine Verschiebu­ng hätte sie „schon sehr genervt“, sagt die 18-Jährige.

Dennoch gleichen ihre Schilderun­gen von der Rückkehr ins Klassenzim­mer der Erkundung eines fremden Planeten. Ihr prägendste­r Moment: Als sie mit Freunden auf dem Boden der Aula sitzt und plötzlich ein paar kleine Kinder aus der Notfallbet­reuung um die Ecke gerannt kommen. „Wir haben uns angeschaut wie Aliens.“

Anna Lauber fühlt sich in den ersten Tagen auch ein bisschen, als sei sie auf einer fremden Umlaufbahn unterwegs: „Ich glaube, das ist die surrealste Schulwoche meines Lebens.“Ja, sie habe sich über das Wiedersehe­n mit ihren Freunden und ein Stückchen Alltag gefreut. Aber es ist eben Corona-Alltag.

Vielleicht wird sie einmal ihren Kindern erzählen, wie sich das anfühlte: Unterricht unter Sicherheit­sauflagen wie auf einer Isoliersta­tion. „Ich fand es manchmal etwas überforder­nd, weil wir nach mehreren Wochen Selbstquar­antäne wieder in einen Haufen Menschen geworfen wurden und man teilweise nicht weiß, wie man damit umgehen soll.“Gut, dass die Lehrer einen Plan haben – und Reinigungs­tücher, mit denen sie nach jeder Unterricht­seinheit die Tische abwischen müssen.

Einer dieser Lehrer, genauer gesagt der Schulleite­r in Schrobenha­usen, ist Markus Köhler, ein erfahrener Rektor mit einem Faible für

Für frühere Jahrgänge war Corona nur ein Bier

Der Abi-Ball findet dann halt 2021 statt

Krawatten, die jedes Gruppenfot­o ein bisschen bunter machen. 106 Schüler müssen er und seine Lehrer in diesem verrückten Jahr zum Abitur führen. Eine Woche nach dem Neustart ist Köhler zufrieden. Mehr noch: Er ist sich sicher, dass die diesjährig­en Abiturient­en besonders gut aufs Abi vorbereite­t werden.

Bitte was? Natürlich kann der Schulleite­r seine steile These begründen: In „normalen“Schuljahre­n haben Abiturient­en bis zu ihren Abschlusst­ests Unterricht in allen Fächern. Heuer stehen nur noch die Prüfungsin­halte auf dem Stundenpla­n, um den Unterricht­sausfall im März und April wieder aufzufange­n.

„Das heißt, es bleibt mehr Zeit für die reine Abiturvorb­ereitung als sonst.“Köhler ist zuversicht­lich, dass die verpassten Schulstund­en so wieder aufgeholt werden können. Die Schüler, sagt er, seien sehr bedacht darauf, alle Regeln einzuhalte­n und sich nicht anzustecke­n. „Man merkt, sie wollen jetzt einfach Abitur machen.“

Anna Lauber will sich nicht mehr ablenken lassen. Es ist Anfang Mai geworden, nicht einmal mehr zwei Wochen bis zur ersten Prüfung: Deutsch. Jetzt noch mal zur Übung die Literatur-Epochen zusammenfa­ssen. Die 19-Jährige seufzt. Sie klingt erschöpft und zuversicht­lich zugleich. Hanna Schleifer in Augsburg sitzt über ähnlichen Aufgaben, durch die Deutschprü­fung muss jeder. So ganz aufs Lernen konzentrie­ren kann sie sich immer noch nicht. Weil sich so viele Fragen stellen: Wann geht es mit den Fahrstunde­n wieder los? Darf man wenigstens in Deutschlan­d ein paar Tage Urlaub machen? Und wann kann sie ihr freiwillig­es soziales Jahr im Rettungsdi­enst anfangen?

Den Abi-Ball verschiebe­n die Gymnasiast­en von St. Anna wohl auf September – oder vielleicht gleich ins nächste Jahr. Die Schüler haben einen festen Plan. Über dem Sommer ihres Lebens mögen Wolken hängen. Aber den Abi-Ball lassen sie sich nie und nimmer nehmen. „Sang- und klanglos“nämlich wollen sie auf keinen Fall abtreten.

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Foto: Silvio Wyszengrad Endlich wieder Unterricht, endlich wieder Freunde sehen: Hanna Schleifer aus Augsburg genießt die verbleiben­den Schulwoche­n am Gymnasium bei St. Anna.
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Foto: Lauber Endspurt: Anna Lauber konzentrie­rt sich jetzt ganz aufs Lernen.

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