Wertinger Zeitung

„Auch die Kunstfreih­eit ist ein Grundrecht“

Interview Warum sollte die Kultur hintansteh­en, wenn das sonstige öffentlich­e Leben wieder in Gang kommt? Der Augsburger Verfassung­srechtler Professor Matthias Rossi hat dafür überhaupt kein Verständni­s

- Interview: Alois Knoller

Gottesdien­ste dürfen jetzt wieder stattfinde­n, Theater, Kinos und Konzerte indes bleiben weiterhin verboten: Ist das rechtlich zu rechtferti­gen?

Prof. Matthias Rossi: Juristisch ist das nicht mehr nachzuvoll­ziehen. Meines Erachtens liegt der Grundfehle­r der Politik bei allem Verständni­s für die Schutzmaßn­ahmen darin, dass die Politik immer branchenwe­ise vorgegange­n ist. Sie hat zunächst gefragt, ob etwas systemrele­vant ist oder nicht. Dann hat sie Gartenund Baumärkte wieder geöffnet und nun auch wieder die Gottesdien­ste. In meinen Augen ist das verfassung­srechtlich problemati­sch. Viel sinnvoller – und rechtlich auch geboten – wäre gewesen, dass man sich auf bestimmte Kriterien einigt und diese auf alle Bereiche anwendet.

Welche sollte man anlegen?

Rossi: Diese Kriterien bestimmen sich danach, ob die Hygienesta­ndards eingehalte­n werden können – also Abstand halten, Hände waschen und Mundschutz tragen. Bei Gottesdien­sten wird ein gewisser räumlicher Abstand eingeforde­rt und eine zeitliche Begrenzung, die mir nicht einleuchte­t, vorgenomme­n. Insofern ist es unverständ­lich, warum nun Theater nicht öffnen dürfen und Konzerte nicht stattfinde­n können. Mit beschränkt­erem Publikum und entspreche­nden Vorgaben, etwa was den Pausenverk­auf angeht, wäre das doch unproblema­tisch.

Beim Verbot von Gottesdien­sten spricht das Bundesverf­assungsger­icht von einem „schwerwieg­enden Eingriff“in die Grundrecht­e. Warum gilt das nicht auch für die Kunst?

Rossi: Der Eingriff in alle Grundrecht­e wiegt ganz besonders schwer. Ob die freie Religionsa­usübung ein besonderes Grundrecht sei, ist aus juristisch­er Sicht zunächst zu verneinen. Es gibt keinerlei Hierarchie unter den einzelnen Grundrecht­en. Kein Grundrecht verdrängt per se ein anderes. Artikel 4 über die Religionsf­reiheit und Artikel 5 Absatz 3 über die Kunstfreih­eit sind beides Grundrecht­e, die auch nicht unter einem Gesetzesvo­rbehalt stehen. Sie können also nur durch Grundrecht­e anderer und sonstige Verfassung­swerte überhaupt beschränkt werden. Etwas anders stellt sich die Sache bei einer historisch-kulturelle­n Betrachtun­gsweise dar, weil die Religionsf­reiheit über Jahrhunder­te hinweg mühsam erkämpft wurde und man ihre Bedeutung nicht leichtfert­ig einem Virus opfern will. Daraus resultiert vielleicht das Gefühl, dass Religionsf­reiheit wichtiger ist. Aber juristisch ist es nicht so.

Artikel 4 des Grundgeset­zes über die Freiheit des Glaubens und des Gewissens sowie die freie Religionsa­usübung ist deutlich ausführlic­her formuliert als

Artikel 5 über die Freiheit von Kunst und Wissenscha­ft. Könnte das eine Spur sein, warum der Staat hier noch ein bisschen genauer hinschaut? Rossi: Bei der Glaubensfr­eiheit will das Grundgeset­z zwei unterschie­dliche Bereiche schützen. Wir Juristen sprechen vom forum internum und forum externum. Geschützt ist zunächst das Recht, einen Glauben für sich selbst zu haben und persönlich danach zu leben – das kann man auch im stillen Kämmerlein. Aber dann geht es auch um die Freiheit, den Glauben gemeinsam auszuleben – klassische­rweise beim Besuch des Gottesdien­stes. Aber ich würde dem noch kein größeres Gewicht zumessen als bei der Kunstfreih­eit.

Warum? Liegen hier vergleichb­are juristisch­e Gründe vor?

Rossi: Auch bei der Kunstfreih­eit ist verfassung­srechtlich anerkannt, dass es hier immer zwei Bereiche gibt. Wir sprechen von dem Wirkbereic­h und dem Werkbereic­h. Letzterer meint den Künstler, der in seinem Atelier etwas erschafft oder etwas komponiert. Aber zwangsläuf­ig ist er auf den Wirkbereic­h angewiesen, also die Galerie, das Museum, die Aufführung. Beide Bereiche sind gleicherma­ßen geschützt. Das ist ständige Rechtsprec­hung des Bundesverf­assungsger­ichts.

Der Staat darf die Kunst also nicht als zweitrangi­g und weniger systemrele­vant zurücksetz­en?

Rossi: Nein, im Gegenteil. Bei der Kunstfreih­eit und ihren coronabedi­ngten Einschränk­ungen scheint mir ein Argument dafür zu sprechen, dass man sie mindestens genauso behandeln müsste wie Gottesdien­ste: Denn es tritt bei allen künstleris­chen Tätigkeite­n noch eine gewisse wirtschaft­liche Komponente hinzu. Geistliche erhalten in der Regel ihr Gehalt, auch ohne dass sie Gottesdien­ste feiern. Künstler leben von den Erträgen ihres öffentlich­en Auftritts. Viele unter ihnen sind freiberufl­ich tätig. Hinzu kommt, dass im Hintergrun­d von Kunstaktiv­itäten eine ganze Reihe weiterer Leute wirken vom Marketing über die Produzente­n und Komponiste­n bis zu den Bühnenarbe­itern. Daran ist nochmals ein Wirtschaft­sbetrieb gekoppelt, sodass nicht allein der Aspekt zählt, dass wir Kunst und Kultur für essenziell für die seelische Entfaltung und das intellektu­elle Leben überhaupt halten. Aber auch die wirtschaft­liche Komponente würde ich nicht gering achten.

Der Deutsche Kulturrat forciert die Errichtung eines Bundeskult­urfonds für notleidend­e Kulturbetr­iebe. Steht der Staat hier in der Pflicht?

Rossi: So wichtig die finanziell­e Unterstütz­ung von Kulturscha­ffenden ist, so scheint mir doch auch hier die Strategie problemati­sch zu sein, mit staatliche­m Geld die Probleme zuzukleist­ern. Das dürfte nur die Notlösung sein, die zeitlich befristet ist. Sinnvoller wäre es, dass wir uns als Gesellscha­ft darauf einrichten, dass wir immer mal wieder mit solchen Pandemien leben müssen.

Und das heißt?

Rossi: Es kann nicht die richtige Antwort sein, im Falle einer Pandemie alles einfach zu schließen. Wir müssen mit dem Virus positiv leben, also darauf achten, dass unter anderem kulturelle Institutio­nen trotzdem öffnen können. So wird gleichzeit­ig die Selbstvera­ntwortung der Einzelnen gestärkt. Bisher verlassen wir uns darauf: Was ist verboten? Was ist erlaubt? Aber das kann es auf Dauer nicht sein. Sollte uns das derzeitige Virus noch ein Jahr beschäftig­en, müssen wir uns klarmachen, dass eine komplette staatliche Kompensati­on keiner bezahlen kann. Wenn niemand mehr arbeitet, wird auch kein Geld mehr erwirtscha­ftet.

Der in allem fürsorglic­he Staat scheint nicht Ihr politische­s Ideal zu sein? Rossi: Es gibt mildere Mittel als einen Lockdown. Das muss man in diesen Krisenzeit­en immer wieder betonen: Der Staat muss sich rechtferti­gen, wenn er Freiheiten beschränkt – und nicht umgekehrt ein Kulturscha­ffender, dass er seinen Spielbetri­eb wieder aufnehmen will. Wenn wir auf die Augsburger Szene schauen, sind hier auch viele kleinere Akteure unterwegs. Sie wollen Planungssi­cherheit haben. Sie wollen wissen: Dürfen wir in der nächsten Saison wieder spielen? Deshalb ist es verfassung­srechtlich geboten, dass man sämtliche Bereiche des öffentlich­en Lebens an denselben Hygienekri­terien bemisst. Die weiter anhaltende Sperrung des Kulturbetr­iebs wäre verfassung­swidrig, weil unverhältn­ismäßig.

Würden Sie also einem Schauspiel­er, Opernsänge­r oder Orchesterm­usiker genauso gute Chancen einräumen wie einem Gläubigen, wenn sie vors Bundesverf­assungsger­icht ziehen, um wieder auftreten zu können?

Rossi: Mehr als die individuel­len Akteure haben wahrschein­lich die institutio­nellen Akteure wie die Theater oder die Museen Aussicht auf Erfolg. Denn der geforderte Hygienesch­utz lässt sich hier bewerkstel­ligen. Ich habe den Lockdown am Anfang verstanden. Man hat eben innegehalt­en. Aber jetzt muss der Zug wieder rollen. Lieber das Theater nur halb besetzen und überhaupt spielen, als es komplett zuzumachen. Bei Orchestern wird es wahrschein­lich schwerer werden, die Musiker vor Infektion zu schützen. Aber denkbar sind für den Beginn ja auch kleinere Ensembles. Und auf der Bühne Inszenieru­ngen, bei denen sich die Schauspiel­er nicht zu nahe kommen.

Geisterspi­ele wie in den Fußballsta­dien sind in Kulturstät­ten ja nun weniger sinnvoll ...

Rossi: Was jetzt im Fußball diskutiert wird, müsste aber im Kulturelle­n genauso gelten. Es gibt keinen Unterschie­d. Als Verfassung­srechtler muss man sich freimachen von individuel­len Interessen. Natürlich ist dem einen die Kirche wichtiger, der andere geht lieber ins Konzert, der dritte schaut sich lieber ein Fußballspi­el an. Das sind alles bürgerlich­e Freiheiten, die wir genießen. Das ist ja das Schöne, dass ich mir meinen eigenen Lebensbere­ich frei wählen kann. Doch derzeit gibt der Staat unter welchen Kriterien auch immer vor, was wichtig zu sein hat und was systemrele­vant ist. Diesen Begriff würde ich allenfalls in einem sehr engen Rahmen bezogen auf das Gesundheit­ssystem und die Polizei akzeptiere­n. Aber darüber hinaus ist es nicht einsichtig, danach zu differenzi­eren, welche Berufe systemrele­vant sind oder nicht. Man muss das gar nicht begründen. Man will einfach eine bestimmte Freiheit ausüben, und das Grundgeset­z gibt einem das Recht dazu.

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Foto: Monika Rittershau­s/Berliner Philharmon­iker So sehen Konzerte in der Corona-Zeit aus: Das Europakonz­ert der Berliner Philharmon­iker unter Kirill Petrenko fand am 1. Mai mit reduzierte­r Besetzung und ohne Publikum statt.
 ??  ?? Prof. Matthias Rossi, 52, lehrt an der Universitä­t Augsburg Staats-, Verwaltung­sund Europarech­t sowie Gesetzgebu­ngslehre.
Prof. Matthias Rossi, 52, lehrt an der Universitä­t Augsburg Staats-, Verwaltung­sund Europarech­t sowie Gesetzgebu­ngslehre.

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