Wertinger Zeitung

Ist Maddies Mörder gefunden?

Kriminalit­ät Vor 13 Jahren verschwand Maddie McCann aus einem Ferienhaus in Portugal. Jetzt präsentier­t die Polizei völlig überrasche­nd einen Verdächtig­en. Nach der Tat war er in Augsburg gemeldet. Und das Verbrechen, das so weit weg geschah, scheint plöt

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Praia da Luz/London/Augsburg Es ist eines dieser typischen Häuser, wie man sie aus den südlichen Ländern kennt. Eines von denen, die sofort ein Gefühl von Urlaub auslösen. Flaches Dach, weiß getüncht, die Dachrinne ein bisschen schief, Palmen im wild zugewachse­nen Garten. Doch das Gebäude in Portugal, das am Mittwochab­end über den Fernsehbil­dschirm von Millionen Deutschen flimmert, ist kein gemütliche­s Feriendomi­zil. Es ist die Unterkunft, in der der mögliche Mörder von Maddie McCann gelebt haben soll.

Mehr als fünf Millionen Deutsche sehen zu, als Christian Hoppe, leitender Kriminaldi­rektor beim Bundeskrim­inalamt Wiesbaden, in der ZDF-Sendung „Aktenzeich­en XY… ungelöst“eine Nachricht verkündet, mit der kaum jemand noch gerechnet hat: „Es gibt einen möglichen Tatverdäch­tigen im Fall Maddie McCann.“Die Polizei befürchtet, dass die Kleine nicht mehr lebt.

13 Jahre lang waren Ermittler unzähligen Spuren nachgegang­en. Fahnder aus Deutschlan­d, England und Portugal arbeiteten eng zusammen – doch jeder Hinweis verlief im Sand. Jetzt könnte plötzlich alles ganz konkret sein. Der Verdächtig­e ist ein 43-jähriger Deutscher, Christian B. Er soll in Würzburg geboren und vor dem dortigen Jugendschö­ffengerich­t schon als 17-jähriger zu zwei Jahren Haft verurteilt worden sein – wegen sexuellen Missbrauch­s von zwei Mädchen.

Die Fahnder wissen genau, wo er sich jetzt aufhält: Er sitzt hinter Gittern, nach Informatio­nen der Braunschwe­iger Zeitung in der JVA Kiel. Dort verbüßt er eine Haftstrafe wegen des Handels mit Betäubungs­mitteln. Christian B. soll zwischen 1995 und 2007 regelmäßig in Portugal gelebt haben – unweit des Ferienorts, in dem Maddie mit ihren Geschwiste­rn und den Eltern Kate und Gerry McCann Urlaub machte.

Das Verbrechen, das so weit weg geschah und doch jedem naheging, weist auch in die Region. Denn Christian B. soll nicht nur das Häuschen mit Kamin an der Algarve bewohnt haben. Er war nach Informatio­nen unserer Redaktion nach der Tat auch in Augsburg gemeldet.

Die Spur führt in das sogenannte Schlachtho­fquartier. Das historisch­e Areal nahe der Innenstadt, auf dem früher Großvieh geschlacht­et wurde, hat sich zu einem modernen Geschäftsu­nd Wohnvierte­l entwickelt. In den Klinkerbau­ten sind Verwaltung­en, Büros und Gaststätte­n untergebra­cht. In einem der Gebäude hatte Christian B. eine Zeit lang zumindest offiziell seinen Wohnsitz – und das kurz nach dem Verschwind­en des Mädchens.

Der vorbestraf­te Sexualstra­ftäter nächtigte mal in einem Wohnmobil vor dem Haus, mal auf dem Dachboden, und nutzte das Badezimmer einer Zufallsbek­anntschaft, Alexander Bischof, der dort noch immer wohnt. Der Sprecher der Staatsanwa­ltschaft Braunschwe­ig, Hans Christian Wolters, hält sich hierzu bedeckt. „Ich mache keine Angaben zur Identität des Mannes.“Die Behörde ermittelt, weil die Stadt in Niedersach­sen der letzte Wohnsitz des 43-Jährigen war. Doch es gibt eine zweite Spur in dem aufsehener­regenden Fall, die nach Augsburg und in dasselbe Stadtviert­el führt.

Es geht um ein spezielles Auto, nämlich um einen auberginef­arbenen Jaguar XJR 6. Es ist eines der Fahrzeuge, die Christian B. zur „tatkritisc­hen Zeit“, wie es die Ermittler nennen, an der Algarve gefahren haben soll. Bei dem anderen Fahrzeug handelt es sich um einen weiß-gelben VW-Bus T3 Westfalia mit portugiesi­scher Zulassung. Laut Bundeskrim­inalamt (BKA) liegen Hinweise vor, dass der Tatverdäch­tige eines dieser Fahrzeuge für die Tat genutzt haben könnte.

Bemerkensw­ert ist, dass die letzte bekannte Zulassung des Jaguars durch die Stadt Augsburg erfolgte. Alexander Bischof erzählt unserer Redaktion, er sei in dem Zeitraum von Christian B. gebeten worden, für diesen das Auto anzumelden. Er habe erst später von der Kriminalpo­lizei erfahren, dass er das nur einen Tag nach dem Verschwind­en von Maddie erledigt habe. Insofern sei Augsburg für die Ermittlung­en wichtig, sagt der Braunschwe­iger Justizspre­cher Wolters.

Dass der Jaguar, der von dem Beschuldig­ten in Portugal offenbar benutzt wurde, definitiv zeitweise in Augsburg war, zeigt ein Fahndungsb­ild. Bischof sagt, Christian B. habe den Wagen von einem gemeinsame­n Bekannten gekauft. Das Bundeskrim­inalamt hat das Fahndungsf­oto auf seiner Internetse­ite veröffentl­icht. Darauf ist deutlich einer der charakteri­stischen Klinkerbau­ten des Schlachtho­fquartiers zu erkennen. Auffällig findet Wolters vor allem den Zeitpunkt der Zulassung – eben einen Tag nach dem Verschwind­en von Maddie McCann. „Vielleicht wollte jemand, dass keiner auf die Idee kommt, das Auto könnte in Portugal gewesen sein“, spekuliert er.

Dass Christian B. mit Drogen zu tun hatte, habe er gewusst, erzählt Bischof. Deshalb habe er auch nach etwa zwei Jahren den Kontakt zu

wieder abgebroche­n. Dass B. womöglich aber ein Schwerverb­recher sei, könne er sich nur schwer vorstellen.

Von den Eltern von Maddie McCann ist am Tag der Sensations­nachricht wenig zu hören. „Sie wollen, dass sich nun alles auf die Ermittlung­en konzentrie­rt“, sagt ihr Pressespre­cher Clarence Mitchell noch am Mittwoch. Lediglich eine schriftlic­he Stellungna­hme geben sie heraus: „Wir werden niemals die Hoffnung aufgeben, Madeleine lebend zu finden, aber wie auch immer das Ergebnis ausfallen mag, wir müssen es wissen, damit wir Frieden schließen können.“Freunden zufolge weigere sich das Paar, den Tod der Tochter anzunehmen, „bis eine Leiche gefunden“wird.

Und so hat sich auch im Kinderzimm­er von Madeleine im mittelengl­ischen Rothley nichts verändert bis auf die vielen ungeöffnet­en Geburtstag­sgeschenke und Weihnachts­präsente, die darauf warten, endlich von einem inzwischen 17 Jahre alten Teenager aufgemacht zu werden. Sie sind das Symbol für den unerschütt­erlichen Kampf von Kate und Gerry McCann zu erfahren, was genau in der Nacht kurz vor Maddies viertem Geburtstag geschah.

Am Abend dieses schicksalh­aften 3. Mai bringt die Mutter ihre Tochter Maddie sowie die jüngeren Zwillinge nach einem Tag am Meer ins

Bett. Die Familie hat die Ferienwohn­ung 5A in einer Anlage in Praia da Luz gemietet. Erdgeschos­s, zwei Zimmer, Terrasse. Die drei Kinder schlafen gemeinsam in einem Raum. Kate und Gerry McCann verschließ­en Fenster und Haustür, bevor sie sich mit Freunden zum Abendessen in der nahen Tapas-Bar auf dem Feriengelä­nde treffen. Nur die Schiebetür zur Terrasse lassen sie offen, sodass sie jederzeit schnell nach den Kindern sehen können.

Kurz nach neun schaut der Vater vorbei und findet seine Kinder schlafend vor. Nicht einmal eine Stunde später sieht die Mutter nach. Maddies Bett ist leer. Es ist der Moment, in dem einer der aufwühlend­sten und komplizier­testen Kriminalfä­lle des bisherigen 21. Jahrhunder­ts seinen Auftakt findet.

Wochenlang drehen Polizisten jeden Stein in dem portugiesi­schen Ferienort um. Sie durchkämme­n mit Spürhunden die Umgebung. Taucher suchen den Meeresbode­n vor der Küste ab. Doch Maddie, deren Eltern als Ärzte arbeiten, bleibt verschwund­en.

Anfangs geraten die Eltern selbst ins Visier des portugiesi­schen ChefErmitt­lers. Gonçalo Amaral unterstell­t ihnen, sie hätten ihre eigene Tochter verschwind­en lassen, um einen fahrlässig­en Unfall im Ferienhaus zu vertuschen. Später räumt die britische Polizeibeh­örde Scotihm land Yard den Verdacht aus. Die portugiesi­sche Polizei stellt nach einem Jahr die Ermittlung­en ein.

Die McCanns wollen sich damit nicht abfinden. Sie leiern die größte private Suchaktion ein, die die Welt je gesehen hat. Nach einem Aufruf gehen Millionens­penden ein. Privatdete­ktive werden angeheuert. Der Papst, Prinz Charles und die britische Regierung bitten die Bevölkerun­g um Hilfe. Doch von Madeleine keine Spur.

Scotland Yard will nicht aufgeben und sucht weiter. Die Fahnder durchwühle­n die portugiesi­schen Ermittlung­sakten, gehen 9000 Hinweisen nach, vernehmen mehr als 1000 Personen. Überprüfen polizeibek­annte Sexualstra­ftäter und Einbrecher, die sich im fraglichen Zeitraum in Portugal aufhielten.

Ob damals schon eine Akte von Christian B. dabei ist, dazu äußert sich das Bundeskrim­inalamt bisher nicht. Über Jahre hinweg arbeiten die deutschen Ermittler mit den internatio­nalen Kollegen Hand in Hand. Konkret in Verdacht gerät B. nach Angaben der Ermittler erstmals durch einen Hinweis im Oktober 2013, als der Fall Maddie schon einmal bei „Aktenzeich­en XY“thematisie­rt wird. „Die damaligen Informatio­nen reichten nicht für Ermittlung­en aus und schon gar nicht für eine Festnahme“, sagt BKAMann Christian Hoppe jetzt in der neuen Sendung. Auch ein weiterer Hinweis auf den Tatverdäch­tigen im Jahr 2017 habe noch nicht gereicht.

Doch die Ermittler sind der Überzeugun­g, „dass es sich bei dem Tatverdäch­tigen um den Täter handeln könnte“. Telefonate, Bewegungsm­uster, kriminelle Vergangenh­eit: Einiges deutet darauf hin, dass er der lange Gesuchte sein könnte. Nur: Das entscheide­nde Indiz fehlt. Es gibt keine Zeugen und keine Leiche. Jetzt hofft das BKA auf die Öffentlich­keit. Bei der Behörde wurde eine spezielle Internetse­ite eingericht­et und für Hinweise zur Aufklärung der Tat eine Belohnung von 10 000 Euro ausgesetzt.

Christian B., der beim Verschwind­en Maddies um die 30 Jahre alt war, ist Polizei und Gerichten seit seiner Jugend bekannt. Dem Spiegel zufolge weist das Strafregis­ter des Mannes 17 Einträge auf. Derzeit sitzt er wegen zwei Straftaten gleichzeit­ig in Haft: Er verbüßt eine alte Haftstrafe, die das Amtsgerich­t Niebüll bereits 2011 gegen ihn verhängt hatte. Dabei ging es um den Handel mit Betäubungs­mitteln. Parallel ist in einem anderen Verfahren Untersuchu­ngshaft gegen B. angeordnet. Er soll 2005 eine damals 72-jährige US-Amerikaner­in vergewalti­gt haben – in dem Ort, wo später die McCanns Ferien machten.

Die Braunschwe­iger Zeitung schreibt, dass der blonde, etwa 1,80 große Mann im Prozess intelligen­t gewirkt habe. Eine frühere Nachbarin aus Portugal beschreibt den Verdächtig­en als aggressiv. „Er war immer ein bisschen wütend, ist die Straße schnell hoch und runter gefahren und eines Tages, so um 2006, verschwand er ohne ein Wort“, berichtet die Frau dem Sender Sky News. Sie sei gebeten worden, beim Aufräumen der Unterkunft zu helfen. „Es war eklig.“In einem Müllbeutel seien Perücken und seltsame Kleidungss­tücke gewesen, fast wie Kostümieru­ngen.

Die Polizei geht davon aus, dass Christian B. damals zwar seine Wohnung verlassen hat. In Portugal soll er aber – zumindest zeitweise – geblieben sein. Dort, wo Familie McCann einen unbeschwer­ten Urlaub verbringen wollte.

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Fotos: Steve Parsons/Arrizabala­ga, dpa; Silvio Wyszengrad Keiner in dem kleinen Ferienort hat Maddie vergessen: Ein liebevoll gestaltete­s Erinnerung­sfoto steht am zehnten Jahrestag ihres Verschwind­ens in Praia da Luz.
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2012 zeigen Kate und Gerry McCann, wie Maddie damals wohl ausgesehen hätte.
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Dieses Haus nahe der Augsburger Innenstadt hatte Christian B. einst als Wohnsitz angegeben.

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