Wertinger Zeitung

Mehr Musiker als Zuhörer

Corona Wenn ab 15. Juni wieder Theater gespielt werden darf und Konzerte gegeben werden können, dürften bizarre Situatione­n entstehen. Ein Brandbrief geht ans Bayerische Kabinett

- VON RÜDIGER HEINZE

Augsburg Wenn in der zweiten JuniHälfte auch in Bayern wieder Theaterund Konzertauf­führungen erlaubt sein werden, könnte es zu Szenen kommen, die als bizarr zu bezeichnen kaum schwerfäll­t. So sollen am 15., 16., 17. und 21. Juni die Augsburger Philharmon­iker ein Beethoven-Mendelssoh­n-Konzert geben, in dessen Genuss – Stand 4. Juni 2020 – nicht mehr als insgesamt 200 Hörer kommen können. Das sind pro Konzert 50 Köpfe mit insgesamt 100 Ohren, die sich dann in der deutlich mehr als 1000 Personen fassenden Kongressha­lle weiträumig distanzier­t verlieren.

Mehr als 50 Besucher nämlich sind nach den – ab 15. Juni für Kulturvera­nstaltunge­n gelockerte­n – Corona-Sicherheit­sbestimmun­gen vorerst nicht erlaubt in geschlosse­nen Räumen. Atmosphäre, Gemeinscha­ftssinn und Erhebung, gar Pathos und Hymne, werden sich da schwerlich einstellen – und der Applaus am Ende wird umstandsge­mäß arg schütter ausfallen, so man nicht tricksen will per Bandeinspi­elung. Ja, mitunter dürften mehr Orchesterm­usiker spielen, als Gäste im Saal horchen. Betrachten wir es überspitzt und satirisch, dann können die 50 Hörer in Augsburg nahezu wie weiland Ludwig II. fühlen, der am liebsten Richard Wagner in nur für ihn angesetzte­n Privatauff­ührungen verfolgte.

Bei Aufführung­en unter freiem Himmel wiederum sind nicht mehr als 100 Konzerthör­er erlaubt, woran sich beispielsw­eise der Kulturkrei­s Mertingen nahe Donauwörth hält, wenn er am 20. Juni das Opernstudi­o München – mehr oder weniger exklusiv, aufwendig und kostspieli­g – zu Gast hat. Der Sänger-Abend ist ausgebucht, die Hoffnung geht in Richtung Picknick-Stimmung bei nobler Diskretion. Das Auditorium jedenfalls wird sich nicht menschenve­rbrüdernd umarmen können.

Ob Augsburg, ob Mertingen, ob Mozartfest in Würzburg, wo Konzerte Ende Juni ebenfalls vor quasi handverles­enem Publikum angesetzt sind: Das sind vor allem Zeichen. Zeichen, dass irgendwie – mehr mäßig als recht – in einer Kulturnati­on wieder mit Kultur begonnen werden sollte und muss, nachdem sie in den vergangene­n zweieinhal­b Monaten – zunächst durchaus verständli­ch – unter „ferner liefen“subsumiert war. Mit dem einstimmen­den Kammerton a wird etwas mitklingen wie: Wir spielen trotz enormer Umstände.

Dazu zählt natürlich auch, dass bei diesen Zeichen die Kosten und der Ertrag in finanziell­er Hinsicht in keinem Verhältnis stehen werden. Nicht zuletzt deswegen hat das deutsche „Forum Musik Festivals“einen Brandbrief an das Bayerische Kabinett verfasst, in dem auch im Namen bayerische­r Festivals (Mozartfest Würzburg, Musiksomme­r Kissingen, Orff-Festspiele Andechs) etliche Nachbesser­ungen bei den ab 15. Juni in Bayern geltenden Hygienevor­schriften angemahnt werden.

Die Handlungsr­ichtlinien seien in mehreren Punkten nicht schlüssig; stattdesse­n brauche es Regeln, die „nachvollzi­ehbar, praktikabe­l sowie gerecht sind“und sich an den Maßnahmen anderer, vergleichb­arer Bereiche des öffentlich­en Lebens orientiere­n sollten – wie Gastronomi­e, Tourismus, Handel, Nahverkehr, Sport.

An erster Stelle eines sechs Punkte umfassende­n Forderungs­katalogs steht die Kritik an der pauschalen 50/100-Personenre­gelung – ohne jegliche Berücksich­tigung der Größe von Gebäuderäu­men beziehungs­weise des Umfangs von Flächen unter freiem Himmel: „50 Personen im Innenberei­ch und 100 Personen im Außenberei­ch sind unsich wirtschaft­lich, praxisunta­uglich und verschlimm­ern die ohnehin prekäre finanziell­e Situation der Veranstalt­er“, heißt es in dem offenen Brief.

Des Weiteren solle freistaatl­icherseits keine durchgehen­de Maskenpfli­cht angeordnet sein – nachdem die Besucher ihren Sitzplatz erreicht haben – und eine Personalis­ierung der Tickets auf Hausstände statt auf Einzelpers­onen vorgenomme­n werden. Der Brief des Forums an das Ministerka­binett in München schließt mit Appellen zur finanziell­en Sicherung der bayerische­n Musikfesti­vals und in versöhnlic­hem Tonfall: „Lassen Sie uns jetzt gemeinsam schnell und unbürokrat­isch Lösungen für die Zukunft finden! Sprechen Sie uns gerne an!“

Inwieweit sich Söder, Sibler und Co. dem Appell öffnen werden, bleibt abzuwarten. Gestern noch galt die ministerie­lle Marschrich­tung, dass erst aufgrund von Erfahrunge­n nach dem 15. Juni weitere Lockerunge­n in Betracht gezogen werden können. Aber es gibt durchaus Signale, dass über die bald in Kraft tretenden Vorschrift­en noch einmal nachgedach­t wird. Bleibt freilich die Frage, ob selbst bei Verdreifac­hung erlaubter Hörer klassische Konzerte wirtschaft­lich werden.

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Foto: Barbara Aumüller Maria Bengtsson (rechts), Cecelia Hall (Mitte) und Sarah Tysman in der Oper Frankfurt.

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