Wertinger Zeitung

„Ich habe ein außergewöh­nliches Leben gehabt“

Interview Dieter Müller ist bei seinen Großeltern aufgewachs­en. Nach seiner Karriere lag er nach einem Herzinfark­t im Koma. Sein Sohn starb mit 16 Jahren. Trotzdem blickt der Stürmer in seiner Biografie nicht zornig zurück. Wie gelingt das?

- Interview: T. Mehl

Etwas Küchenpsyc­hologie zum Anfang: Ist Ihr Buch auch ein Stück weit Aufarbeitu­ng all der Schicksals­schläge, die Sie erlebt haben. Ihr Sohn ist mit 16 Jahren an Krebs gestorben, Ihre Mutter gab Sie bereits als Baby zu Ihren Großeltern ab, Sie haben Ihren leiblichen Vater erst spät kennengele­rnt …

Müller: Das war schon Vergangenh­eitsbewält­igung. Es hat mir gutgetan, hat mich aber auch gefordert. Wenn ich beispielsw­eise über den Tod meines Sohns spreche, geht es mir immer noch nahe. Das zieht mich auch runter. Das gehört ja auch dazu. Ich wollte den Menschen aber auch mitteilen, wie ich das geschafft habe, nicht daran zu zerbrechen.

Es ist Ihnen scheinbar gelungen. Sie leben ein bürgerlich­es Leben mit Ihrer zweiten Ehefrau in Hanau. Wie gelingt es mit Ihrer Lebensgesc­hichte, nicht am Leben zu verzweifel­n? Müller: Ich habe eine unglaublic­h tolle Partnerin, meine jetzige Frau hat mir viel geholfen. Ich habe mich viel mit dem Thema Tod beschäftig­t, habe schon immer viel gelesen, über Religion beispielsw­eise „Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben“. Das sind kleine Mosaikstei­ne, die helfen, einen Sinn zu sehen, wo es keinen Sinn zu geben scheint.

Haben Sie einen Sinn gefunden? Müller: Nur bedingt. Wenn sich das Leben von einem Tag auf den anderen dermaßen verändert, wenn der Mensch, den du am meisten liebst, schwer krank ist und auch klar ist, dass er stirbt, gibt es anfangs keine Normalität. Ich bin verzweifel­t, habe es aber auch durch meinen Glauben und die Hilfe meiner Frau und von Freunden geschafft. Am Ende habe ich mich aber allein herausgezo­gen.

Sind Sie religiös?

Müller: Ja, ich glaube an Gott. Auch nach meinem Herzinfark­t 2012 haben mir Gebete sehr geholfen. Ich glaube, dass fast alles im Leben vorbestimm­t ist. Es gibt einen schönen Satz von Goethe: „Nach dem Gesetz, wonach du angetreten. So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen.“Da liegt sehr viel Wahrheit drin. Ich habe auch viel über den Buddhismus gelesen. Wir beschäftig­en uns zu wenig mit der Unendlichk­eit, es kann alles schnell vorbei sein. Wir Menschen haben die Demut verloren. Wir sind gehetzt, jeder mit sich selbst beschäftig­t, es gibt zu wenig Nächstenli­ebe.

Ist die Corona-Krise da vielleicht eine Möglichkei­t, wieder elementare Tugenden in den Vordergrun­d zu rücken? Müller: Corona hin, Corona her, da wird sich nicht viel ändern. Die Menschen sind halt so. Ich kann nur jedem raten, sich den Dingen auch auf eine spirituell­e Art zu nähern. Als mein Sohn ins Jenseits übergegang­en ist, hatte ich beispielsw­eise das Gefühl, in diesem Raum wären Engel. Mir ist schon klar, dass das schwer zu glauben ist. Aber es ist eben meine Überzeugun­g.

Sie glauben, dass vieles vorbestimm­t ist. Woher wussten Sie, dass Ihr Ende nicht gekommen ist, als Sie einen Herzinfark­t erlitten haben?

Müller: Das wusste ich in dem Augenblick nicht. Da habe ich ja nicht viel mitbekomme­n. Viel schlimmer war es mit meinem Sohn. Wir wussten, dass er stirbt, und die letzten drei Monate ist er Tag und Nacht gelegen, hat Morphium bekommen. Das war schlimm. Wenn ich bei ihm war, hatte ich eine unglaublic­he Kraft. Wenn ich gefahren bin, bin ich zusammenge­brochen.

Ihr Herz schlug für eine halbe Stunde nicht mehr nach Ihrem Herzinfark­t, Sie lagen fünf Tage im Koma und haben keine bleibenden Schäden davongetra­gen. Schicksal?

Müller: Wäre meine Frau zehn Sekunden später gekommen oder der Notarzt weniger kompetent gewesen, wäre es aus gewesen. Mein ehemaliger Mannschaft­skamerad Gerd Strack hatte weniger Glück. Er hat es nicht geschafft und starb vor zwei Wochen an den Folgen eines Herzinfark­ts. Man braucht keine Angst vor dem Tod zu haben, der ist schon vorbestimm­t. Glauben heißt ja nichts wissen. Schicksal? Das muss jeder für sich selbst beantworte­n.

Sie haben danach Ihr Leben umgestellt: Etliche Kilos weniger auf der Waage, keine Zigaretten – gönnen Sie sich manchmal noch etwas?

Müller: Ich habe drei Jahre in Bordeaux gespielt, dort meine Liebe zum Wein entdeckt. Ab und zu gönne ich mir ein Glas. Aber mein Herz hat nur noch 35 Prozent, da muss ich schon aufpassen. Fahrradfah­ren und Golfspiele­n geht, Joggen leider nicht.

Und noch ein wenig kicken?

Müller: Nein, da habe ich Angst. Ich laufe einen Kilometer und merke, dass meine Pumpe nicht mitmacht. Ich lebe mit Einschränk­ungen. Aber ich bin zufrieden. Ich habe ein außergewöh­nliches Leben gehabt. Wenn morgen der liebe Gott sagt „Das war’s“, dann kann ich nicht jammern. Bei meinem Sohn war das was anderes.

Kommt Ihnen bei derartigen Schicksals­schlägen Corona nicht wie eine Lappalie vor?

Müller: Ich schaue immer den „Weltspiege­l“in der ARD. Wenn ich da das Elend auf der Welt sehe, sage ich zu meiner Frau: „Wir dürfen nicht jammern. Wir müssen im Heute leben, da glücklich sein.“Es fehlt an der Demut – im Fußball und auch sonst überall. Glücklich sein hat nur wenig mit Materielle­m zu tun.

Sie hadern auch nicht, dass Sie nur zwölf Länderspie­le gemacht haben? Immerhin waren Sie zwei Mal Torschütze­nkönig in der Bundesliga, trafen 1976/77 34 Mal – nur Gerd Müller hat Spielzeite­n mit mehr Toren gehabt. Kein Deutscher traf häufiger im Uefa-Cup. Aber wenn die großen deutschen Stürmer genannt werden, fallen neben Gerd Müller Namen wie Jupp Heynckes, Karl-Heinz Rummenigge oder Horst Hrubesch.

Müller: Ich habe auch 14 Tore in einer Pokalsaiso­n geschossen. Das hat nach mir keiner mehr geschafft. Ich war hinter Klaus Fischer der jüngste Spieler, der 30 Tore in der Bundesliga geschossen hat – dann kamen Jadon Sancho und Kai Havertz. Für die wird ein Marktwert von rund 100 Millionen Euro veranschla­gt. Das steht doch in keiner Relation. Manchmal frage ich mich, was ich heute wohl wert wäre.

Und trotzdem nehmen Sie selten einen Top-Platz ein, wenn es um die Rangliste der besten deutschen Stürmer geht.

Müller: Das hat vielleicht mit der Nationalma­nnschaft zu tun. Dabei hatte ich ja ein Riesendebü­t 1976…

…als Sie im EM-Halbfinale gegen Jugoslawie­n beim Stand von 1:2 eingewechs­elt wurden, erst den Ausgleich schossen und in der Verlängeru­ng noch beide Treffer zum 4:2-Sieg.

Müller: Dadurch, dass ich ins Ausland gegangen bin, stand ich nicht so im Blickfeld. Es war aber auch eine Riesenkonk­urrenz mit Klaus Fischer und Horst Hrubesch, Rummenigge dann ja auch noch. Da hat sich Jupp Derwall eben für die entschiede­n. Das muss man dann eben akzeptiere­n.

Wie verfolgen Sie heute das Fußballges­chäft?

Müller: Vor Corona habe ich mir ab und zu die Spiele von Frankfurt und Köln im Stadion angeschaut. Jetzt sehe ich mir das ein oder andere Spiel im Fernsehen an. Das ist aber skurril. Zuschauer gehören einfach dazu. Mehr Spaß macht mir die Arbeit in meiner Fußballsch­ule. Die Arbeit mit Kindern hat mir nach dem Tod meines Sohns unglaublic­h geholfen.

Wie tickt denn der Trainer Dieter Müller?

Müller: Ich versuche es mit einer Mischung aus Härte und Menschlich­keit. Viele sind etwas übersättig­t. Da kann man den Kindern aber keine Vorwürfe machen. Es ist eine andere Generation.

 ?? Foto: dpa ?? Einer seiner größten Momente: Dieter Müller trifft im EM-Halbfinale 1976 gegen Jugoslawie­n zum 2:2. In der anschließe­nden Verlängeru­ng erzielt er zwei weitere Treffer. Zum Stammspiel­er in der Nationalma­nnschaft hat er es aber nie geschafft.
Foto: dpa Einer seiner größten Momente: Dieter Müller trifft im EM-Halbfinale 1976 gegen Jugoslawie­n zum 2:2. In der anschließe­nden Verlängeru­ng erzielt er zwei weitere Treffer. Zum Stammspiel­er in der Nationalma­nnschaft hat er es aber nie geschafft.
 ??  ?? Dieter Müller, 66, ist einer der erfolgreic­hsten deutschen Stürmer. Seine Biografie „Meine zwei Leben“ist bei Edel Books erschienen.
Dieter Müller, 66, ist einer der erfolgreic­hsten deutschen Stürmer. Seine Biografie „Meine zwei Leben“ist bei Edel Books erschienen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany