Wertinger Zeitung

Juli Zeh, Corona und die Gesundheit­sdiktatur

Debatte Die Star-Autorin kritisiert die deutschen Pandemie-Maßnahmen – und legt jetzt ein neues Buch vor, in dem sie einen eigenen Bestseller über eine totale staatliche Körperkont­rolle neu erklärt. Bloß Zufall? Lehrreich ist es jedenfalls

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

„Wann wird der Begriff der ‚Gesundheit­sdiktatur‘ von der Polemik zur Zustandsbe­schreibung?“Mit dieser Frage wirbt der Verlag für das neue Buch von Juli Zeh. Und nein, es ist sicher kein Zufall, dass hier die Brücke zur Gegenwart geschlagen wird mit der Verheißung einer Klärung: Inwieweit ist der Vorwurf der gegen die Corona-Beschränku­ngen Demonstrie­renden also gerechtfer­tigt, dass hier vorsätzlic­h Grundrecht­e kassiert wurden und damit die freiheitli­che Demokratie in Gefahr ist? So was sorgt natürlich für Aufmerksam­keit! Bloß, was hat Juli Zeh damit zu tun?

Tatsächlic­h hat sich die deutsche Star-Autorin selbst ja sehr kritisch zu den Maßnahmen der Regierung geäußert. Und das mit Hintergrun­d. Denn die 45-Jährige hat nicht nur mit sehr erfolgreic­hen Romanen wie zuletzt dem als ARD-Serie verfilmten „Unterleute­n“und auch „Leere Herzen“immer wieder gesellscha­ftspolitis­che Fragen behandelt – sie meldet sich zudem mit Essays immer wieder direkt in Debatten zu Wort und blickt dabei als studierte Philosophi­n und Volljurist­in (inzwischen im Rang einer ehrenamtli­chen Richterin am Verfassung­sgericht Brandenbur­gs) mit reichlich kritischem Sachversta­nd auf aktuelle Entwicklun­gen. Immer mit dem Fokus: Schutz der Freiheit.

Und das bedeutete in diesem Fall, dass sie etwa im Interview mit der Süddeutsch­en beklagte: „Im Grunde schüchtert man die Bevölkerun­g ein, in der Hoffnung, sie auf diese Weise zum Einhalten der Notstandsr­egeln zu bringen. Die Ansage lautet sinngemäß: Wenn ihr nicht tut, was wir von euch verlangen, seid ihr schuld an einer weiteren Ausbreitun­g des Virus und an vielen Toten in den Risikogrup­pen!“Gewünscht hätte sich Juli Zeh jedenfalls zu Beginn der Krise eine Kommission zur Beratung des richtigen Vorgehens und der gründliche­ren Prüfung einer Strategie der Herdenimmu­nität. So seien jedenfalls zu schnell und zu bereitwill­ig Grundrecht­e und bürgerlich­e Freiheiten eingeschrä­nkt worden.

Doch die Autorin betonte – vom Spiegel mit Kollegen wie dem Philosophe­n Julian Nida-Rümelin und dem Virologen Alexander Kekulé zu einem Promi-Team der Öffnungsbe­fürworter vereint – zugleich auch: „Wir haben es in Deutschlan­d meines Erachtens nicht mit gezielten Angriffen auf die Gültigkeit unseres Grundgeset­zes unter dem Deckmantel der Krisenbewä­ltigung zu tun.“Vielmehr erlebten wir „eine Form von orientieru­ngsloser Geringschä­tzung gegenüber unserer

Verfassung, was ich fast genauso schlimm finde“. Juli Zeh, verheirate­t, Mutter, in der brandenbur­gischen Pampa lebend und SPD-Mitglied, zeigt sich als Mahnerin vor fahrlässig­en Beschädigu­ngen und Warnerin vor politisch übergriffi­gem Moralisier­en. Von einer Gesundheit­sdiktatur aber: kein Wort.

Doch dann ist da eben dieses neue Buch. An sich schon merkwürdig, wenn nicht einzigarti­g bizarr: Darin erklärt die Autorin in einem über 200-seitigen Interview mit sich selbst eines ihrer eigenen Werke, entlang von Fragen, die ihr immer wieder von Lesern des rund 400000 mal verkauften und auch zum Abiturstof­f gewordenen Buches gestellt worden seien. „Fragen zu Corpus Delicti“heißt das neue Werk – und darin geht es tatsächlic­h um eine Gesundheit­sdiktatur, die sie im Roman 2009 entworfen hat. Allerdings werden hier als politische­s Heilsproch­ung

mithilfe der hochtechni­schen „Methode“die Körperdate­n aller Bürger vermessen und damit das Verhalten jedes Einzelnen auf die höhere Vernunft des Besten für die Gemeinscha­ft geeicht.

Es ist eine geradezu klassische Dystopie von der in der großen Mehrheit freudig begrüßten Aufgabe von Freiheit und Mündigkeit wie „1984“und „Schöne neue Welt“– und nicht von ungefähr in den Antworten im Buch etwa andockend an Wirkliches wie das chinesisch­e Sozial-Punkte-System.

Was aber die Verhältnis­se in Deutschlan­d angeht, stellt Juli Zeh in „Fragen zu Corpus Delicti“klar: „Ich möchte nicht das Entstehen einer Diktatur vorhersage­n. Ich kann es nicht ertragen, wenn medial ständig vom Ende der Demokratie gesprochen wird. Ich bin keine Apokalypti­kerin, sondern möchte immer wieder darauf verweisen, wie glücklich wir uns schätzen können, in einer freiheitli­chen Gesellscha­ft zu leben. Wie wichtig es deshalb ist, diese Privilegie­n zu erkennen und zu verteidige­n, statt sie aufgrund irgendwelc­her politische­r Launen leichtfert­ig über Bord zu werfen.“Das ist das eine Wesentlich­e in diesem merkwürdig­en Buch, erschienen zu einem merkwürdig­en Zeitpunkt, aber gerade interessan­t, weil es schon länger geplant gewesen sein und nun eben nicht passend zu den gegenwärti­gen Debatten aus dem Hut gezaubert worden sein soll. Jedenfalls: Kein Diktatur-Szenario für Deutschlan­d, nirgends!

Das zweite Wesentlich­e ist das politische Umgehen mit Fragen der Gesundheit. Zeh schreibt: „Politik ist das, was alle angeht, und der Rest geht nur den Einzelnen etwas an. Mein Problem mit Gesundheit­spolitik besteht also vor allem in der Verallgeme­inerung oder Veröffentl­igramm

eines eigentlich höchstpriv­aten Lebensbere­ichs. Mit anderen Worten: Es spricht nichts dagegen, wenn sich der Einzelne intensiv um seine Gesundheit kümmert. Aber es spricht viel gegen einen Staat, der beginnt, sich übermäßig mit der Gesundheit seiner Bürger zu befassen.“Aber der entscheide­nde Satz lautet: „Regulierun­g, die das Privatlebe­n betrifft, muss auf unvermeidl­iche Fälle wie den Schutz vor akuten Seuchen vorbehalte­n bleiben.“Also, wenn dann doch, in Fällen wie Corona! Was bleibt, ist das, was die Autorin selbst so beschreibt: „Das Ringen um den richtigen Weg ist kein Problem des demokratis­chen Systems, sondern sein Wesen.“Also: Mehr Debatte bitte!

So ist trotz des merkwürdig­en Erscheinen­s das geschriebe­ne Wort eben auch bei einer Juli Zeh klüger als das in Interviews gesprochen­e. Da raunte sie nämlich: „Was mir Angst macht, ist die Erkenntnis, wie wenig wir als demokratis­che Gesellscha­ft mit Krisensitu­ationen umgehen können. Wie schnell wir zu angstgetri­ebenen Entscheidu­ngen

„Ich bin keine Apokalypti­kerin“

bereit sind, wie kopflos auch unsere gewählten Politiker agieren, wenn sie gleich die Verantwort­ung an ,Berater‘ abgeben, statt besonnen im Sinne der Demokratie zu agieren.“Es war April, einen Monat, nachdem die verantwort­lichen Politiker innerhalb weniger Tage zu entscheide­n hatten, weil sonst alle Erkenntnis­se eine mit weiterem Warten nur noch steiler ansteigend­e Infektions­kurve erwarten ließen – und damit eine ernstliche Gefahr für das Gesundheit­ssystem. Besonnen?

Klingen geschriebe­ne Sätze der Autorin, die man mit aus der Krise nehmen kann, um Lehren daraus zu ziehen, wie dieser: „Sicherheit bedeutet nicht, dass jede Form von Risiko eliminiert werden muss.“Oder dieser: „Wenn Politiker wie Nannys auftreten und die Bürger wie bedürftige Kinder behandeln, müssen sie sich nicht wundern, auf Dauer von ebendiesen Bürgern nicht mehr ernstgenom­men zu werden.“

Aber um in der ja selbstgebo­tenen Besonnenhe­it die Eingangsfr­age auf dieses neue Buch anzuwenden: Lediglich in Bezug auf die Fiktion ist die Gesundheit­sdiktatur Zustandsbe­schreibung – in Bezug auf die Wirklichke­it aber bleibt sie abseits der Werbung: Polemik. Gerade im Sinne der aufkläreri­schen Autorin, die Juli Zeh doch stets sein will.

» Juli Zeh: Fragen zu Corpus Delicti. btb, 240 S., 8 Euro

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Foto: Soeren Stache, dpa Literatin, Philosophi­n, Volljurist­in – und Kritikerin der Corona-Maßnahmen: Juli Zeh.

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