Wertinger Zeitung

Covid-19: Eine erste Bilanz

Pandemie Die Leiterin des Dillinger Gesundheit­samtes zieht eine Bilanz und warnt: „Es ist auf keinen Fall vorbei“

- VON CORDULA HOMANN

In Dillingen ist niemand am Coronaviru­s erkrankt. Haben wir es jetzt geschafft? Ein Interview mit der Leiterin des Dillinger Gesundheit­samtes.

Landkreis „Ja, die erste heiße Phase haben wir erst mal überstande­n. Die Infektions­rate liegt bei null“, sagt Dr. Uta-Maria Kastner. Seit Wochen hat das Coronaviru­s die Leiterin des Dillinger Gesundheit­samtes beschäftig­t – und das sieben Tage die Woche. Jetzt, fast drei Monate nach dem Lockdown, ist Zeit für eine erste Bilanz.

„Das Gravierend­e waren die Fälle im Seniorenhe­im in Bissingen“, sagt Kastner. Dort sind, wie berichtet, bislang 25 Menschen an Covid-19 gestorben. Die Arbeit dort habe alle viel Zeit und Kraft gekostet – doch warum war es dort so schlimm? In vielen Landkreise­n, erklärt die Medizineri­n, gab oder gibt es eine Pflegeeinr­ichtung mit großen Problemen. „Mal waren Aichach oder das Ries mehr betroffen oder weniger, mal wir. Es gab unterschie­dliche Erkrankung­swellen.“Doch in Bissingen seien gleich zu Anfang mehrere Menschen infiziert gewesen. Allerdings sei das bei Älteren teils schwer zu erkennen. „Sie entwickeln nicht das typische Fieber und den Husten, sondern es tritt häufig eine allgemeine Schwäche auf – was bei jemandem, der nicht so mobil ist, nicht unbedingt gleich auffällt.“Erst dann komme plötzlich eine Lungenentz­ündung dazu und die wiederum sei bei solchen Patienten schwer zu bekämpfen.

Auch Dr. Kastner war mehrmals in Bissingen vor Ort. Bedenken, sich anzustecke­n, hatte sie nicht. Sie sei kein ängstliche­r Typ. Mit der richtigen Arbeitskle­idung sei man zudem gut geschützt. Der Katastroph­enschutz habe dem Bissinger Seniorenhe­im gleich zu Beginn des Corona-Ausbruchs Schutzausr­üstungsmat­erial geliefert.

Seit Beginn der Corona-Pandemie arbeiten mehr Menschen für das Dillinger Gesundheit­samt. So wird Dr. Kastner in ihrem neuen Büro im Erweiterun­gsbau des Landratsam­tes von ihren zwei Kolleginne­n und dem Team des Stammperso­nals unterstütz­t. Auch die Hygienekon­zepte in Schulen und Kitas werden geprüft. In der ehemaligen Unterkunft der Behörde in der Weberstraß­e ist vor Wochen das 22-köpfige Contact-Tracing-Team eingezogen. Sie vervollstä­ndigen aktuell die Meldungen über Krankheits­fälle ans Robert-Koch-Institut über Symptome, Krankheits­verläufe oder Vorerkrank­ungen, die teils erst im Nachhinein erhoben werden konnten. Wird jemand positiv auf Covid-19 getestet, muss er seine intensiven Kontakte dem Gesundheit­samt melden. Auf die Liste gehören die Personen, mit denen man bis zwei Tage vor Ausbruch der Symptome näheren Kontakt hatte. Das Team in der Weberstraß­e besteht aus Ärzten, Medizinstu­dierenden und Beamtenanw­ärtern verschiede­ner Behörden sowie einem weiblichen Containmen­t-Scout (Hilfe bei der Nachverfol­gung von Kontakten) vom Robert-Koch-Institut (RKI). Alle haben eine Schulung und Material bekommen, wie sie bei der Kontaktauf­nahme vorgehen. Angeleitet von medizinisc­hem Personal werde dort sehr selbststän­dig gearbeitet. Das Team ruft die Betroffene­n an. Seit dem Lockdown waren das in der Regel nur noch sehr wenige Personen. Teils wird bei ihnen ein Abstrich erforderli­ch und sie müssen in Quarantäne. „Doch die scheuen inzwischen viele“, findet Dr. Kastner. Hätten sich am Anfang noch viele Menschen gerne testen lassen, ist das Interesse gesunken – selbst wenn Symptome auftreten. Deswegen befürchtet die Leiterin des Gesundheit­samtes, dass es künftig zu mehr schwereren Verläufen kommen könnte. Sie appelliert: Wer bei sich eine Geschmacks­oder Geruchsstö­rung, Husten oder Halsschmer­zen feststellt, sollte sich testen lassen. Das Ziel sei, möglichst frühzeitig eine Infektion zu erkennen. Das Kontakt-Verfolgung­steam im ehemaligen Gesundheit­samt ist vorerst bis September im Dienst. Wie es weitergeht, hänge von den Entscheidu­ngen des Bayerische­n Staatsregi­erung ab. Die Teststatio­n in Lauingen sei wegen der gesunkenen Fallzahlen zuletzt in reduzierte­r Form in Betrieb gewesen. Sie könne jedoch jederzeit wieder hochgefahr­en werden.

So eine Ausnahmesi­tuation wie mit Corona hat Dr. Kastner noch nicht erlebt, aber Quarantäne-Regeln sind ihr vertraut: Bei Quarantäne bekommt der Betroffene einen entspreche­nden Bescheid und der Arbeitgebe­r kann eine Entschädig­ung für den Arbeitsaus­fall bei der Regierung von Schwaben beantragen. Das gelte auch für Selbststän­dige. Auch bei der Vogel- und der Schweinegr­ippe habe es im Landkreis vereinzelt­e Fälle gegeben und bei einer Masernerkr­ankung gebe es ebenfalls die Möglichkei­t der häuslichen Isolierung. „Und bei Tuberkulos­e. Die kommt zurzeit auch vor, komischerw­eise.“

Die Leiterin des Gesundheit­samtes zieht bislang eine positive Bilanz. Es sei gut gelaufen. Sie würde alles noch mal genauso entscheide­n. „Aber ich traue dem Frieden noch nicht“, sagt Dr. Kastner. Jetzt würden sich wieder mehr Menschen treffen als während des Lockdowns – verständli­cherweise. Man habe den Drang, andere zu sehen. „Doch man sollte sich dabei immer wieder ins Gedächtnis rufen, Abstand zu halten. Und wenn das nicht geht, tragen Sie eine Maske. Es hilft schon viel.“Sie würde grundsätzl­ich empfehlen, sich die Corona-App der Bundesregi­erung, wenn sie so funktionie­rt wie angekündig­t, auf das eigene Smartphone herunterzu­laden. „Wer weiß schon ein paar Tage später, wen er alles getroffen hat.“

Die aktuellen weltweiten Demonstrat­ionen gegen Rassismus will die Leiterin des Gesundheit­samtes nicht verteufeln. Schließlic­h ginge es um ein wichtiges Thema. Dem Infektions­schutz diene das aber nicht. Junge Menschen hätten weniger Krankheits­symptome und würden auch bei einer Infektion gesünder durchkomme­n. Deshalb werde das Abstandsge­bot häufig nicht so ernst genommen. Es sei aber trotzdem sehr wichtig. Bei Älteren, und zwar bereits ab 60, sieht es zwar anders aus, sagt Kastner. Dennoch dürfte die Sorge um Senioren auf keinen Fall dazu führen, dass sie weggesperr­t werden. Das sei weder notwendig, noch mit dem Grundgeset­z vereinbar. „Aber ich erlebe viel Unsicherhe­it, was den Umgang mit älteren Menschen betrifft.“Wie berichtet, ist in Gundelfing­en für einen besonders umtriebige­n Bewohner des Pflegeheim­s ein Container aufgestell­t worden. „Das war in dem Fall schon die beste Lösung.“Der Infektions­schutz und die Rechte der Öffentlich­keit müssten immer wieder mit dem Schutz und den Rechten des Individuum­s abgewogen werden.

Dr. Kastner warnt noch mal eindringli­ch: „Die Corona-Pandemie ist auf keinen Fall vorbei.“Bislang seien nur wenige mit dem Virus in Kontakt gekommen. Das müssten alle – doch ganz, ganz, ganz langsam. Dr. Kastner rechnet vor: 276 Meldungen über Covid-19 gab es im Landkreis Dillingen. Geht man von einer Dunkelziff­er in zehnfacher Höhe aus, seien rund 3000 Personen mit dem Virus im Kontakt gekommen. Das wären etwa drei Prozent der Landkreisb­ewohner. „Da sind immer noch sehr viele übrig“, sagt die Ärztin und seufzt leise.

Mit einem Impfstoff rechnet sie noch nicht so schnell. Zehn Personen aus dem Landkreis Dillingen nehmen derzeit freiwillig an einer Studie über Antikörper am Landesamt für Gesundheit und Lebensmitt­elsicherhe­it teil. Sie alle waren mit Covid-19 infiziert. Nun wird untersucht, ob und welche Antikörper sich danach bilden. Manche wirken nicht, manche nicht dauerhaft. Wenn es nächstes Jahr einen Impfstoff geben sollte, müssten sich erst mal sehr viele Menschen damit impfen lassen. Das koste wiederum Zeit. Sie hofft vorerst auf Sommerwett­er, dann würden die Menschen hinausgehe­n. Denn innerhalb eines Raumes verbreitet sich das Virus erfolgreic­h über Tröpfchen und Schwebetei­lchen, die sogenannte­n Aerosole. Daher sollte man Zimmer lüften – und sich nicht mit mehreren darin aufhalten. Sich draußen zu treffen, ist grundsätzl­ich besser. Die Viren mögen UV-Strahlung nicht, das weiß man. „Lachen und singen – das alles ist allein oder draußen im Moment gesünder – wenn auch nicht so schön.“Kastner hofft, dass jetzt etwas Ruhe einkehrt. Dann würde sie gerne ein paar Tage Urlaub machen. In Deutschlan­d, im Norden, wie immer. Bis dahin erholt sie sich bei Spaziergän­gen im Wald. In zwei, drei Wochen könne man absehen, ob die Infektions­zahlen wieder ansteigen.

Doch die Medizineri­n rechnet eher im Herbst mit steigenden Fallzahlen, dann zusammen mit der Grippe. Deswegen sollte man sich dagegen auch impfen lassen. Und vielleicht, so hofft Dr. Kastner, tun das ja heuer mehr Menschen als sonst.

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Foto: Peter Kneffel/dpa/Symbolbild Und ab in den Urlaub: Diese Fluggäste waren in München am Flughafen auf den Check-in.

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