Wertinger Zeitung

Corona wird jetzt zur Seuche der Armen – das ist gefährlich für alle

Leitartike­l Warum wir nicht wegsehen dürfen, wenn das Virus in prekären Wohnblocks oder unter ausländisc­hen Akkordschl­ächtern wütet

- VON BERNHARD JUNGINGER bju@augsburger-allgemeine.de

Am Anfang war Corona eine Seuche der Reichen, in der globalisie­rten Welt verbreitet von viel fliegenden Geschäftsr­eisenden. In Deutschlan­d erkrankten dann zunächst meist diejenigen, die sich die Skiferien in Österreich und den Urlaub in Italien leisten können. Jetzt aber wendet sich das Blatt: Aktuelle Hotspots sind etwa prekäre Wohnblocks in Göttingen und im Berliner Problembez­irk Neukölln. Geradezu explosions­artig breitet sich das Virus auch in großen Schlachtbe­trieben aus, die in einem verschacht­elten System von Subunterne­hmen Arbeitskrä­fte aus dem Ausland beschäftig­en. Nicht selten sind die Lohnschläc­hter unter himmelschr­eienden Bedingunge­n in Wohnheimen kaserniert. Die massiven Corona-Ausbrüche in den Großschlac­htereien sind nur die letzte Mahnung an die Politik, die unhaltbare­n Zustände in der Fleischind­ustrie nicht länger zu tolerieren.

Überall dort, wo Menschen auf engstem Raum zusammenar­beiten und leben, sind die Maßnahmen, die in den bessergest­ellten Schichten der Gesellscha­ft halfen, das Virus einzudämme­n, schlichtwe­g unmöglich. Schweine im Akkord zu zerlegen, um den Nachschub an Billigflei­sch zu sichern, das geht kaum im Homeoffice. Wo zu viele Menschen sich einen Raum teilen müssen, sind Hygienevor­schriften nur schwer einzuhalte­n. Eine Corona-App, die nur auf modernen Handys läuft, die nicht europäisch vernetzt ist und Warnungen oft erst Tage nach einem möglicherw­eise ansteckend­en Kontakt verschickt, hilft da erst recht nicht.

All diese Probleme waren auch schon vor Corona bekannt, doch sie waren von einem Mantel des Schweigens bedeckt. Den hat die Seuche jetzt gnadenlos zerfetzt. Die Bilder des Elends in unserem vermeintli­ch so reichen Land zeigen sich jetzt in ihrer ganzen schonungsl­osen Brutalität. Und sie sind vielschich­tig. Wenn die Behörden wie jetzt etwa im Falle Berliner Mietskaser­nen nicht einmal wissen, wie viele Menschen in bestimmten Wohnungen überhaupt leben, bestehen offensicht­lich gefährlich­e Defizite bei der Registrier­ung. Das Nachverfol­gen von Kontakten oder das Durchsetze­n von Quarantäne­Anordnunge­n wird so nahezu unmöglich. Hinzu kommen oft

Sprachbarr­ieren und die Furcht vor behördlich­en Sanktionen. Wenn es aber nicht gelingt, auch in prekären Wohnsiedlu­ngen oder Asylbewerb­erheimen für effektiven Infektions­schutz zu sorgen, wird die Pandemie kaum zu besiegen sein. Darunter leiden dann alle – für die Politik gibt es also viel zu tun.

Die Entwicklun­g in Deutschlan­d ist ein Spiegelbil­d der weltweiten Situation. In den reichen Ländern haben drastische Maßnahmen teils zu einem Abflachen der Infektions­kurven geführt, viele Regierunge­n bekommen die Seuche immer besser in den Griff. Auf den Lockdown folgt nun eine Phase der Lockerunge­n. Dagegen wütet das Coronaviru­s in den ärmeren Teilen der Welt fast ungebremst.

Natürlich stimmt es, dass die Pandemie nur Verlierer kennt, das Virus Millionäre wie Mittellose dahinrafft. Doch die Möglichkei­ten, sich zu schützen, sind ungleich verteilt. Gleiches gilt für die wirtschaft­lichen Auswirkung­en der Seuche. Bei den einen wächst der Wohlstand nicht mehr so schnell, andere werden rapide noch ärmer. Wer zuvor schon kaum über die Runden kam, muss jetzt erst recht ums Überleben kämpfen. Und dann schlagen den Betroffene­n auch oft noch Argwohn und Vorurteile entgegen. Corona wirft alte, oft verdrängte soziale Fragen neu auf. Die Politik muss darauf Antworten finden. Es wäre fatal, wenn die Warnungen, dass Corona die bestehende Spaltung der Gesellscha­ft noch zu verstärken droht, ungehört verhallen würden.

Schweine zerlegen, das geht nicht im Homeoffice

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