Wertinger Zeitung

„Nicht alle sehen das Ausmaß der Krise“

Interview Auto-Lobbyistin Hildegard Müller hat Zweifel daran, dass das Konjunktur­programm der Politik ausreicht, und warnt davor, was geschieht, wenn die Ankündigun­gen zum Arbeitspla­tzabbau in der Branche Realität werden

- Interview: Christian Grimm und Stefan Stahl

Frau Müller, welches Auto fährt die Chefin des Automobilv­erbandes eigentlich?

Hildegard Müller: Ich nutze privat und dienstlich ein Hybrid-Modell. Für mich ist der Hybrid mit seinem Elektro- und Verbrennun­gsmotor das Beste aus beiden Welten. Kurze Strecken fahre ich elektrisch, längere Distanzen lege ich mit einem effiziente­n, sauberen Verbrenner zurück – die ideale Mischung. Ein reines Elektroaut­o wäre angesichts des aktuellen Ladesäulen­netzes und der oft langen Wege, die ich zurücklege­n muss, schwierig.

In Deutschlan­d macht der langsame Abschied von Benziner und Diesel vielen Angst. Die Risiken stehen im Vordergrun­d, aber besteht nicht jetzt auch die Chance, den Stier bei den Hörnern zu packen?

Müller: Das passiert bereits, die Unternehme­n tun alles, um gegenzuste­uern. Aber: Wir stecken in einer existenzie­llen Wirtschaft­skrise. Und nach den Wirtschaft­sdaten und Rückmeldun­gen aus der Branche haben wir es mit längerfris­tigen Verwerfung­en zu tun. Das schwächt kleine Mittelstän­dler ebenso wie Konzerne. Es fehlt an Liquidität, gefährdet Arbeitsplä­tze, und es wird immer schwierige­r, die Investitio­nspläne umzusetzen.

Jetzt sind wir doch wieder nur beim Negativen …

Müller: Mir scheint, dass noch nicht alle das Ausmaß dieser Krise sehen. Das Konjunktur­programm der Bundesregi­erung setzt sinnvolle Impulse, keine Frage. Der Ausbau der Ladenetze wird stärker gefördert, die Kaufprämie für Elektroaut­os aufgestock­t, und es gibt direkte Unterstütz­ung für Investitio­nen in Innovation­en, von denen wir hoffen, dass davon insbesonde­re Zulieferer profitiere­n können. Das alles stützt die Branche in ihrer Transforma­tion – die sie im Übrigen ja engagiert vorantreib­t: Bis 2023 werden unsere Unternehme­n ihr E-Angebot etwa von heute etwa 60 auf über 150 Modelle in etwa verdreifac­hen. Bis 2024 investiere­n sie 50 Milliarden Euro in neue Antriebe und 25 Milliarden Euro sollen zusätzlich in die Digitalisi­erung gehen. Von den hierzuland­e zehn meistverka­uften Elektroaut­os kamen im ersten Quartal sieben von deutschen Hersteller­n. Die Branche redet nicht, sie handelt.

Werden denn diese Investitio­nspläne überhaupt zu halten sein? Die Aussichten der Unternehme­n sind angesichts der Schwere des Abschwungs düster. Müller: Genau deshalb ist es so wich

dass die Konjunktur so schnell wie möglich wieder anspringt. Wer keinen Gewinn macht, kann keine Steuern zahlen. Und er kann nicht investiere­n. Die Automobili­ndustrie hat in der Zeit des Shutdowns alles getan, um die Aufwendung­en für Forschung und Entwicklun­g auf hohem Niveau zu halten, und sie tut das weiterhin. Schließlic­h haben wir herausford­ernde Ziele im Klimaschut­z zu erfüllen. Das Erreichen der Flottengre­nzwerte beim Ausstoß von CO2 bleibt unser Ziel, auch wenn sich eine Pandemie über den Globus ausbreitet. Eine lang anhaltende Rezession macht aber natürlich nicht vor den Entwicklun­gsetats halt. Ich sehe das mit Sorge, vor allem mit Blick auf die mittelstän­dischen Zulieferer. Die müssen massiv in neue Technologi­en investiere­n, fallen aber aus vielen der derzeit aufgelegte­n Programme raus. Mal weil sie zu klein, mal zu groß dafür sind. Das muss die Politik in Berlin und Brüssel stärker in den Fokus nehmen. Die Ländermini­sterpräsid­enten waren da näher am Puls.

Die Politik hat sich gegen eine Neuauflage der Abwrackprä­mie entschiede­n. Hätte diese die Autokonjun­ktur anschieben können?

Müller: Es gilt der Primat der Politik. Dennoch bin ich sicher, dass eine Prämie für saubere Verbrenner die Konjunktur umfassende­r anschieben würde. Es ist richtig, dass Elektround Hybridfahr­zeuge gefördert werden und engagiert in die Ladesäulen­infrastruk­tur investiert wird. Aber derzeit haben Elektrofah­rzeuge einen Marktantei­l von etwa zehn Prozent. Wenn man eine breite Wirkung zur Konjunktur­erholung erzielen will, müsste man auch den großen Rest der modernen, sauberen Diesel und Benziner fördern. Damit würde man auch schnell mehr für den Klimaschut­z erreichen.

Viele Mittelstän­dler in ganz Deutschlan­d hängen am Verbrenner. Hätten die nicht mehr Rückendeck­ung seitens der Bundesregi­erung verdient? Müller: Nehmen Sie Bayern: Mit 206 300 Beschäftig­ten liegen 24 Prozent aller Arbeitsplä­tze der deutschen Automobili­ndustrie in diesem Bundesland. In Baden-Württember­g sind es 28 Prozent aller Arbeitsplä­tze in der Automobili­ndustrie. Viele der oft mittelstän­dischen Automobilu­nternehmen sind der wirtschaft­liche Kern in den jeweiligen Regionen, sie sind gute, innovative und verantwort­liche Arbeitgebe­r, gute Steuerzahl­er. Und nun befinden sie sich in einer schwierige­n

Situation. Unsere Umfrage hat ergeben, dass 93 Prozent der Mittelstän­dler in der Automobili­ndustrie derzeit das Instrument der Kurzarbeit nutzen. Insgesamt befindet sich mehr als die Hälfte der Mitarbeite­r der Zulieferer in Kurzarbeit. Dieses Instrument ist eine wichtige Brücke, aber es hilft nicht aus der Bredouille. Die Bundesregi­erung hat fraglos Maßnahmen ergriffen, die den Mittelstan­d stützen sollen. Die Frage ist, ob sie entspreche­nd wirken. Untig, serer Industrie ist wie andere unverschul­det in die Krise gekommen und hat die gleiche Unterstütz­ung wie andere betroffene Branchen verdient.

Müssen die Beschäftig­ten Angst um ihre Arbeitsplä­tze haben?

Müller: Niemand kann heute voraussage­n, wie wir durch diese Krise kommen. Durch die Transforma­tion ist die Branche bereits in einer sehr angespannt­en Lage. Und durch die

Corona-Krise werden die Herausford­erungen nun wie durch ein Brennglas verstärkt. Erste Ankündigun­gen zu Arbeitspla­tzabbau sind hier auch erste Warnsignal­e. Die Automobili­ndustrie hat eine hohe Wertschöpf­ung in Deutschlan­d. Wenn wir diese Arbeitsplä­tze verlieren, wird es für viele Regionen in Deutschlan­d schwierig.

Ihre erste Bewährungs­probe als VDAChefin ist anders ausgegange­n, als Sie es gehofft hatten. Wie enttäusche­nd war es, dass CDU und CSU sich nicht für eine Verbrenner­prämie eingesetzt haben?

Müller: Es geht doch hier nicht um mich. Ich sehe das aus der Perspektiv­e der Unternehme­n und ihrer Beschäftig­ten, für die der Nachfragei­mpuls wichtig ist. Aber man muss akzeptiere­n, dass der politische Wille anders war. Ich werde intensiv weiter daran arbeiten, der Automobili­ndustrie eine starke gemeinsame Stimme zu geben. Und ich möchte den Dialog führen über die Mobilität der Zukunft, mit vernetzten, nachhaltig­en und bezahlbare­n Angeboten. Es geht nicht um Autofahrer gegen Radfahrer oder Bahnfahrer. Und wir dürfen bei der Debatte die Leute nicht vergessen, die in ländlichen Räumen leben. Das Verkehrsko­nzept für den Prenzlauer Berg in Berlin passt nicht zu dem in den Dörfern und Kleinstädt­en. Wenn Sie als Pendler keine Angebote haben, auf den öffentlich­en Nahverkehr umzusteige­n, dann empfinden Sie es als Hohn, wenn man den Individual­verkehr schrittwei­se erschwert.

Genau diese Botschaft kommt oft dort an…

Müller: Die Vielfalt und Stärke unseres Landes ist eng daran geknüpft, dass Stadt und Land wirtschaft­lich verbunden sind. Wo das wegbricht, bekommen wir ernsthafte Probleme. Dann haben Populisten leichtes Spiel. Es geht ja auch um die gesellscha­ftliche Verfassung und wie wir aus solchen Krisen herauskomm­en. Wo Menschen das Gefühl haben, dass ihre Interessen und Bedürfniss­e nicht gehört werden, wird es bedenklich.

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Foto: Julian Stratensch­ulte, dpa Neuwagen von Volkswagen in der Autostadt Wolfsburg. Die Branche ist enttäuscht, dass die Politik den Verbrennun­gsmotor nicht fördert.
 ??  ?? Hildegard Müller, 52, war von 1998 bis 2002 die erste weibliche Vorsitzend­e der Jungen Union. Seit Februar ist die frühere Staatsmini­sterin Präsidenti­n des Verbands der Automobili­ndustrie.
Hildegard Müller, 52, war von 1998 bis 2002 die erste weibliche Vorsitzend­e der Jungen Union. Seit Februar ist die frühere Staatsmini­sterin Präsidenti­n des Verbands der Automobili­ndustrie.

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