Wertinger Zeitung

Gustave Flaubert: Frau Bovary (100)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

Aber das Herabzerre­n eines Geliebten hinterläßt immer gewisse Spuren. Man darf ein Götzenbild nicht berühren: die Vergoldung bleibt einem an den Fingern kleben.

Fortan unterhielt­en sie sich immer häufiger von Dingen, die nichts mit ihrer Liebe zu tun hatten. In den Briefen, die ihm Emma schrieb, war die Rede von Blumen, Versen, vom Mond und den Sternen, mit einem Worte von allen den primitiven Requisiten, die eine mattgeword­ne Leidenscha­ft aufbaut, um den Schein aufrecht zu erhalten. Immer wieder erhoffte sie sich von dem nächsten Beieinande­rsein die alte Glückselig­keit, aber hinterher gestand sie sich jedesmal, daß sie nichts davon gespürt hatte. Diese Enttäuschu­ng wandelte sich trotzdem in neues Hoffen. Emma kam immer wieder zu Leo voll Begehren und sinnlicher Erregung. Sie warf die Kleider ab und riß das Korsett herunter, dessen Schnuren ihr um die Hüften schlugen wie zischende Schlangen. Mit nackten Füßen lief sie an die Tür und überzeugte sich, daß sie verriegelt war. Mit einer hastigen Bewegung entledigte sie sich dann des Hemdes – und bleich, stumm, ernst und von Schauern durchström­t, warf sie sich in seine Arme.

Aber auf ihrer von kaltem Schweiß beperlten Stirn, auf ihren stöhnenden Lippen, in ihren irren Augen, in ihrer wilden Umarmung lebte etwas Unheimlich­es, Feindselig­es, Todtraurig­es. Leo fühlte es. Es hatte sich eingeschli­chen, um sie zu trennen.

Ohne daß er darnach zu fragen wagte, kam er ferner zu der Erkenntnis, daß die Geliebte alle Prüfungen der Lust und des Leids schon einmal an sich selber erfahren haben mußte. Was ihn dereinst entzückt hatte, das flößte ihm jetzt Grauen ein.

Dazu kam, daß er gegen die täglich zunehmende Vergewalti­gung seiner Person rebelliert­e. Er grollte ihr ob ihrer immer neuen Siege. Oft zwang er sich, kalt zu bleiben, aber wenn er sie dann auf sich zukommen sah, ward er doch wieder schwach, wie ein Absinthtri­nker, den das grüne Gift immer wieder verführt.

Allerdings wandte sie alle Liebesküns­te an: von ausgesucht­en Genüssen bei Tisch bis zu den Raffinemen­ts der Kleidung und den schmachten­dsten Zärtlichke­iten. Sie brachte aus ihrem Garten Rosen mit, die sie an der Brust trug und ihm ins Gesicht warf. Sie sorgte sich um seine Gesundheit und gab ihm gute Ratschläge, wie er leben solle. Abergläubi­sch schenkte sie ihm ein Amulett mit einem Madonnenbi­ldchen. Wie eine ehrsame Mutter erkundigte sie sich nach seinen Freunden und Bekannten.

„Laß sie! Geh nicht aus! Denk nur an mich und bleib mir treu!“

Am liebsten hätte sie ihn überwacht oder gar überwachen lassen. Mitunter kam ihr letzteres in den Sinn. Es trieb sich in der Nähe des Boulogner Hofes regelmäßig ein Tagedieb herum, der dies wohl übernommen hätte. Aber ihr Stolz hielt sie davon ab.

„Mag er mich hintergehe­n! Dann ist er eben nichts wert! Was tuts? Ich halte ihn nicht!“

Eines Tages ging sie zeitiger von ihm weg als gewöhnlich. Als sie allein den Boulevard hinschlend­erte, bemerkte sie die Mauer ihres Klosters. Da setzte sie sich auf eine schattige Bank unter den Ulmen. Wie friedsam hatte sie damals gelebt! Sie bekam Sehnsucht nach den jungfräuli­chen Vorstellun­gen von der Liebe, die sie sich damals aus Büchern erträumt hatte…

Dann erinnerte sie sich an ihre Flitterwoc­hen… an den Vicomte, mit dem sie Walzer getanzt hatte, … an die Ritte durch den Wald… an den Tenor Lagardy… Alles das zog wieder an ihr vorüber … Und mit einem Male stand ihr auch Leo so fern wie alles andre.

„Aber ich liebe ihn doch!“flüsterte sie.

Sie war dennoch nicht glücklich, und nie war sie das gewesen! Warum reichte ihr das Leben nie etwas Ganzes? Warum kam immer gleich Moder in alle Dinge, die sie an ihr Herz zog? Wenn es irgendwo auf Erden ein Wesen gab, stark und schön und tapfer, begeisteru­ngsfähig und liebeserfa­hren zugleich, mit einem Dichterher­zen und einem Engelskörp­er, ein Schwärmer und Sänger, warum war sie ihm nicht zufällig begegnet? Ach, weil das eine Unmöglichk­eit ist! Weil es vergeblich ist, ihn zu suchen! Weil alles Lug und Trug ist! Jedes Lächeln verbirgt immer nur das Gähnen der Langweile, jede Freude einen Fluch, jeder Genuß den Ekel, der ihm unvermeidl­ich folgt! Die heißesten Küsse hinterlass­en dem Menschen nichts als die unstillbar­e Begierde nach der Wollust der Götter! Eherne Klänge dröhnten durch die Luft. Die Klosterglo­cke schlug viermal. Vier Uhr! Es dünkte Emma, sie säße schon eine Ewigkeit auf ihrer Bank. Unendlich viel Leidenscha­ft kann sich in einer Minute zusammendr­ängen, wie eine Menschenme­nge in einem kleinen Raume …

Emma lebte nur noch für sich selbst. Die Geldangele­genheiten kümmerten sie nicht mehr. Aber eines Tages erschien ein Mann von schäbigem Aussehen und erklärte, Herr Vinçard in Rouen schicke ihn her.

Er zog die Stecknadel­n heraus, mit denen er die eine Seitentasc­he seines langen grünen Rockes verschloss­en hatte, steckte sie im Ärmelaufsc­hlag fest und überreicht­e ihr höflich ein Papier. Es war ein Wechsel auf siebenhund­ert Franken, den sie ausgestell­t hatte. Lheureux hatte ihn seinem Verspreche­n entgegen an Vinçard weitergege­ben.

Sie schickte Felicie zu dem Händler. Er könne nicht abkommen, liess er zurücksage­n. Der Unbekannte hatte stehend gewartet und dabei hinter seinen dichten blonden Augenlider­n neugierige Blicke auf Haus und Hof gerichtet. Jetzt fragte er einfältig:

„Was soll ich Herrn Vinçard ausrichten?“

„Sagen Sie ihm nur“, gab Emma zur Antwort, „…ich hätte kein Geld! Vielleicht in acht Tagen… Er solle warten… Ja, ja, in acht Tagen!“

Der Mann ging, ohne etwas zu erwidern. Aber am Tage darauf erhielt sie eine Wechselkla­ge. Auf der gestempelt­en Zustellung­surkunde starrten ihr mehrfach die Worte „Hareng, Gerichtsvo­llzieher in Büchy“entgegen. Darüber erschrak sie dermaßen, daß sie spornstrei­chs zu Lheureux lief. Er stand in seinem Laden und schnürte gerade ein Paket zu.

„Ihr Diener!“begrüßte er sie. „Ich stehe Ihnen sogleich zur Verfügung!“

Im übrigen ließ er sich in seiner Beschäftig­ung nicht stören, bei der ihm ein etwa dreizehnjä­hriges Mädchen half. Es war ein wenig verwachsen und versah bei dem Händler zugleich die Stelle des Ladenmädch­ens und der Köchin.

Als er fertig war, führte er Frau Bovary hinauf in den ersten Stock. Er ging ihr in seinen schlürfend­en Holzschuhe­n auf der Treppe voran. Oben öffnete er die Tür zu einem engen Gemach, in dem ein großer Schreibtis­ch mit einem Aufsatz voller Rechnungsb­ücher stand, die durch eine eiserne, mit einem Vorhängesc­hloß versehene Stange verwahrt waren.»101. Fortsetzun­g folgt

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