Die Chance auf den großen Sprung
Titel-Thema Ist die Verschiebung der Olympischen Sommerspiele ein Trauma? Nicht für alle. Die Tür nach Tokio steht einigen jungen Sportlern so weit offen wie noch nie. Wie drei Nachwuchs-Athleten für ihren Traum kämpfen
Düsseldorf/Saarbrücken Ende Mai wurde es ernst für Lennard Janssen, die mündliche Abiturprüfung in Sport stand an. Das Thema: die Kommerzialisierung der Olympischen Spiele. Viel Theorie zum größten Gesamtsportereignis der Welt. Doch Olympia ist schon länger in Janssens Kopf. Der Skateboarder will dorthin. Als Athlet. Die Chance dazu war nie größer als jetzt, nach der coronabedingten Verschiebung auf kommendes Jahr. Der Traum von den Sommerspielen in Tokio, für viele Athleten jäh geplatzt, ist für Janssen und andere junge Sportler unverhofft in greifbare Nähe gerückt.
Wer sich für die Spiele in diesem Jahr schon qualifiziert hatte, hat sein Ticket auch für 2021 sicher. Über 40 Prozent der Olympia-Startplätze sind aber noch nicht vergeben. Viele Qualifikationswettbewerbe finden erst im kommenden Jahr statt. Sportlern, die noch in ihrer Entwicklung sind, verschafft das die Zeit, die Lücke zu arrivierten Konkurrenten zu schließen und den Sprung zu Olympia doch noch zu schaffen.
Sprünge sind, wenn man so will, das Handwerk von Skateboarder Lennard Janssen. Er tritt in der Disziplin Park an. Dabei präsentieren Athleten ihre Tricks in Pipes, Pools und Rampen. Doch lange waren die Trainingsanlagen geschlossen, sämtliche Wettbewerbe in den vergangenen Monaten wurden abgesagt – genau in der Zeit, als die Vorbereitung auf das Abitur anstand. „So blöd es klingt, aber für mich war das Timing eigentlich optimal“, sagt Janssen. „Schule und Skaten haben lange untereinander gelitten. Durch Corona konnte ich mich erst voll auf das Abitur konzentrieren. Jetzt habe ich den Kopf frei für Olympia.“
In drei internationalen Wettbewerben können Skateboarder noch Punkte für Olympia sammeln, der wichtigste Termin hierzulande ist aber die Deutsche Meisterschaft. Janssen, im vergangenen Jahr noch Zweiter, würde ein Sieg wohl für die direkte Olympia-Qualifikation reichen. Der Termin für die Meisterschaft steht noch nicht fest, doch Janssen wird die Zeit nutzen. Um an seiner Technik zu feilen, um Tricks zu verbessern. Kurz: „Um ein besserer Fahrer zu werden und es nach Tokio zu schaffen.“
Im Fall einer Qualifikation würde der 19-Jährige Geschichte schreiben: Seine Sportart ist in Tokio zum ersten Mal überhaupt Teil des olympischen Programms. „Unsere Szene muss sich an diesen Traum, dieses Ziel erst noch gewöhnen“, sagt Janssen. In der Szene gebe es auch Kritik, weil ein institutionalisierter Wettbewerb wie Olympia nicht zum freien Lebensgefühl passe, für das Skaten stehe. „Gerade bei den ersten Olympischen Spielen unserer Sportart dabei zu sein, wäre aber eine Hausnummer. Diese Chance möchte ich mir nicht entgehen lassen.“Und: Durch Olympia rücken Sportler in den Fokus von Sponsoren – die Teilnahme wäre für Janssen womöglich der Startschuss einer ersehnten Profi-Karriere.
Auf beruflich festen Beinen steht Florian Breuer. Der 23-jährige Slalomkanu-Fahrer vom Augsburger Kajak Verein ist ausgebildeter Polizist. Neben dem Dienst bei der bayerischen Polizei lag Breuers Fokus in den vergangenen Wochen auf Tokio. Aus gesundheitlichen Gründen musste Breuer vor zwei Jahren länger pausieren. Die vergangene Saison, in der es um die Olympia-Qualifikation für den Einer-Canadier ging, war damit quasi gelaufen. Weil aber weder Sideris Tasiadis noch Franz Anton den freien Olympia-Startplatz für Deutschland holen konnten, ist Breuer plötzlich mittendrin im Kampf um das begehrte Ticket.
„Ich habe die Situation sofort als Chance begriffen, den Leistungsrückstand aufzuholen“, sagt Breuer, der trotz der Beschränkungen normal im Kanal trainieren konnte. Erstes Etappenziel auf dem Weg nach Tokio ist ein innerdeutscher Wettkampf nahe Leipzig Ende April. Wer an Olympia teilnimmt, entscheidet anschließend bei der EM in Ivrea. „Die Zeit bis dahin bietet mir riesige Optionen. Plötzlich sind 1000 Wiederholungen möglich anstatt wie üblich nur 50, wenn man mitten in der Wettkampfsaison steckt.“Mithilfe von Videoanalysen bildet Breuer Automatismen. Er will konstanter fahren, technisch besser – und aggressiver. „Ich versuche, mich an das optimale Risiko heranzutasten – und damit ein besserer, mutigerer Fahrer zu werden.“
Dass viele Sportler, darunter auch Dopingsünder mit abgelaufener Sperre, wegen der Verschiebung plötzlich wieder um ein Olympia-Ticket mitmischen – hat das nicht auch etwas von Wettbewerbsverzerrung? Breuer: „Klar ist die Situation für viele Kollegen nicht einfach. Gerade die älteren Athleten, die für Tokio noch einmal angreifen wollten, sind mental in einer blöden Situation“, erklärt der 23-Jährige. „Für die Situation können wir Athleten aber nichts. Und wer jetzt ein guter Athlet ist, ist das in einem Jahr auch noch.“Einen genauen Einblick in die Gemütslage der Kanu-Kollegen habe er nicht, sie seien wie er Einzelsportler. „Die Verschiebung hat bei uns aber weder für Jubelstürme noch für tiefe Traurigkeit gesorgt. Das ist eine sachliche Angelegenheit.“
In Saarbrücken ist die Stimmung anders. Am Triathlon-Stützpunkt dort trainieren vor allem junge Athleten. „Für alle hier gilt das gleiche: ein Jahr mehr bedeutet ein zusätzlisich ches Jahr in der Leistungsentwicklung“, sagt Lena Meißner. Sie ist 22 Jahre alt. Das Hochleistungsalter im Triathlon tritt laut Meißner Ende der 20er-Jahre ein. „Durch die zusätzliche Zeit kann ich mich in den drei Bereichen Laufen, Radfahren und Schwimmen deutlich verbessern. Meine Chancen auf Olympia sind gestiegen.“Dazu komme, dass sie im Juli 2019 nach Saarbrücken gewechselt sei und mit einem neuen Trainer arbeite. „Bis das Früchte trägt, dauert es ein, zwei Jahre.“
Eine deutsche Triathletin fährt zu Olympia. Wer das ist, entscheidet sich Ende Mai 2021 – in einem Wettkampf auf ungewohnter Distanz: 300 Meter Schwimmen, sieben Kilometer Radfahren und zwei Kilometer Laufen müssen die Konkurrentinnen. Bei Olympia sind die Distanzen etwa fünfmal so lang. „Für uns Jüngere ist das ein Vorteil, wir leben von Schnelligkeit und Spritzigkeit“, sagt Meißner. Sechs Frauen machen die Qualifikation unter sich aus. Meißner schätzt ihre Chancen auf 1:6. Und wenn es nicht klappt? „Dann ist das ärgerlich, Olympia ist der Traum aller Sportler. Aber ich bin jung. Und Olympia kommt wieder.“