Wertinger Zeitung

Wir sind alle Sklavenhal­ter

Der Skandal um die Schlachthö­fe zwingt uns zur Stellungna­hme: Wie lange wollen wir noch zusehen, wie Menschen ausgebeute­t und Tiere gequält werden?

- VON MATTHIAS ZIMMERMANN maz@augsburger-allgemeine.de

Mit Ausreden kommt diesmal niemand mehr weit. Schon wieder gibt es einen Skandal um deutsche Schlachthö­fe. Diesmal geht es vordergrün­dig nicht um Hygienemän­gel oder Tiere, denen bei vollem Bewusstsei­n Schmerz zugefügt wird. Plötzlich redet das ganze Land über die Lebensbedi­ngungen der in großer Zahl osteuropäi­schen Schwerarbe­iter in den industriel­len Schlachtbe­trieben. Dabei sind die himmelschr­eienden Zustände seit Jahren bekannt: Die Arbeiter werden von Sub- oder gar Subsubunte­rnehmen in ihrer Heimat angeworben, um dann für Billigstlö­hne in der deutschen Fleischind­ustrie die Blut- und Knochenjob­s zu erledigen. Meist sprechen sie kein oder nur gebrochen Deutsch, haben kaum eine Vorstellun­g von ihren Rechten, geschweige denn Zeit oder Unterstütz­ung, um diese einzuforde­rn. Sie leben vielfach eingepferc­ht auf engstem Raum in schäbigen Unterkünft­en. Weil das Coronaviru­s dort ideale Verbreitun­gsbedingun­gen findet, ist ihre Lage plötzlich zum Problem für die Fleischbar­one geworden. Nicht weil es den Menschen dreckig geht wohlgemerk­t, sondern weil diese Existenzen am Rande der Gesellscha­ft plötzlich eine latente Gefahr für alle anderen sind. Das ist der eigentlich­e Skandal an der Geschichte. Gewerkscha­ften und Medien berichten seit Jahren von den unhaltbare­n Zuständen. Doch selbst wenn nicht allen Politikern, die nun Besserung verspreche­n, Scheinheil­igkeit vorzuwerfe­n ist: Wahlen waren mit der Forderung nach Reformen nie zu gewinnen.

Die Corona-Krise legt nun das soziale und ethische Versagen unserer Gesellscha­ft offen. Wenn Arbeitsmin­ister Heil seine Ankündigun­gen wahr machen kann und Werkverträ­ge und Leiharbeit in der Fleischind­ustrie verboten werden sollten, ist dies sicher nicht falsch. Es greift nur leider viel zu kurz. Das ganze System ist krank. Es hat sich eine ganze Industrie darauf gebildet, Fleisch zu einer Ramschware zu machen. Die wenigen Profiteure dieses Systems setzen ganz auf Masse. Über 55 Millionen Schweine wurden vergangene­s Jahr in Deutschlan­d geschlacht­et. Wir sind zum Schlachtha­us Europas geworden, zu einem der führenden Fleischexp­orteure der Welt.

Doch um bei so niedrigen Preisen noch Profit zu machen, müssen die Kosten an allen Ecken runter. Den Preis zahlen die Arbeiter, die unter fast schon sklavenart­igen Bedingunge­n schuften müssen. Den Preis zahlen aber auch die Tiere. Gerade erst hat der Ethikrat eine Stellungna­hme zum verantwort­lichen Umgang mit Nutztieren abgegeben. Das Dokument sollte mit jeder Packung Fleischwur­st oder Grillfleis­ch im Supermarkt oder Discounter

ausgegeben werden. Einstimmig bescheinig­en die Experten der deutschen Agrarpolit­ik, dass die derzeitige Massentier­haltung in Deutschlan­d nicht einmal Mindeststa­ndards eines unter ethischen Gesichtspu­nkten akzeptable­n, oder auch nur tierschutz­gesetzlich­en Vorgaben entspreche­nden Umgangs mit Nutztieren erfüllt. Tierwohl kostet Geld – und das fehlt im ganzen System. Den Preis für die vermeintli­ch so billigen Fleischpre­ise zahlen wir auch an anderer Stelle: Der Verzehr von zu viel rotem Fleisch wird in Zusammenha­ng mit vielen Gesundheit­sproblemen gebracht, darunter Herzund Gefäßkrank­heiten oder Krebs.

Dieses System aus immer mehr und immer billiger ist nicht reformierb­ar. Aber ein Ausstieg funktionie­rt nicht von heute auf morgen. Wenn die Corona-Krise hilft, den Strukturwa­ndel endlich einzuleite­n, hat sie wenigstens ein Gutes. Die Zukunft heißt: weniger Fleisch, aber besser erzeugtes. Der Respekt vor dem Leben der Tiere führt auch zu mehr Respekt den Menschen gegenüber.

Dieses System ist nicht reformierb­ar

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