Wertinger Zeitung

„Die DDR ist politisch wie ökonomisch gescheiter­t“

Interview Theo Waigel erinnert sich an die Zeit vor 30 Jahren, als die D-Mark in Ostdeutsch­land eingeführt wurde. Der frühere Bundesfina­nzminister verteidigt das Umtauschve­rhältnis und wirft Ökonomen Blauäugigk­eit vor

- Interview: Stefan Stahl

Herr Waigel, am 1. Juli 1990, also vor bald 30 Jahren, warteten viele Bürger in Ostdeutsch­land vor Banken in langen Schlangen auf die Auszahlung ihrer ersten D-Mark-Scheine. War die Einführung der D-Mark zum Kurs eins zu eins, was Löhne und Renten betrifft, eine ökonomisch­e Fehlentsch­eidung, wie es der frühere Bundesbank­Präsident Pöhl einmal nannte?

Theo Waigel: Die Umstellung lag ja insgesamt genau bei 1:1,181, wenn man auch noch die Umstellung der In- und Auslandsve­rbindlichk­eiten im Osten einbezieht. Damit liegt sie sehr nah an den Vorstellun­gen der Deutschen Bundesbank von einer Umstellung von 1:1,2. Die Form der Umstellung war auf alle Fälle in der von uns vorgenomme­nen Form absolut alternativ­los.

Warum eigentlich?

Waigel: Weil ein ostdeutsch­er Arbeitnehm­er im Schnitt 1250 OstMark verdient hat. Hätten wir das im Verhältnis 1:2 umgestellt, wären ihm noch 625 D-Mark geblieben. Einem ostdeutsch­en Rentner, der 600 bis 800 Ost-Mark bekommen hat, wären noch 300 bis 400 D-Mark als Rente übrig geblieben. Dann wären aber fast alle Bürger aus dem Osten zu uns gekommen. Ein Bürger aus Frankfurt an der Oder, der in Frankfurt am Main Sozialhilf­e beantragt hätte, wäre besser dagestande­n, als wenn er zu Hause normal gearbeitet hätte. Die Umstellung 1:2 hätte also nur funktionie­rt, wenn wir die Mauer, die von tapferen Frauen und Männern durchlöche­rt worden ist, wieder aufgebaut hätten. Damit wären wir zum Gespött der Weltgeschi­chte geworden. Auch die Bundesbank hat das längst erkannt.

Dennoch kam es auch durch das Umtauschve­rhältnis, das nicht der schwachen Leistungsk­raft der Ost-Wirtschaft entsprach, zu massiven ökonomisch­en Verwerfung­en in den neuen Bundesländ­ern.

Waigel: Das passierte auch deswegen, weil die Tariflöhne in Ostdeutsch­land zu schnell gestiegen sind und so Wettbewerb­svorteile verspielt wurden.

Doch Ökonomen warnten grundsätzl­ich vor einer Umstellung der Löhne von 1:1, weil das zu einem Arbeitspla­tzabbau im Osten führen kann. Waigel: Was nützen Politikern solche Warnungen, wenn die Ökonomie an ihre Grenzen stößt, also die Menschen Ostdeutsch­land verlassen hätten.

Der frühere Kanzler Kohl sagte bei solchen Anlässen, er sei Politiker und treffe Entscheidu­ngen. Wirtschaft­ler würden die in der Folge auftauchen­den Fragen dann schon lösen.

Waigel: Auch Ökonomen müssen das Verhalten der Menschen respektier­en. Wenn die Menschen in Scharen Ostdeutsch­land verlassen hätten, weil wir die Löhne und Renten 1:2 umgestellt hätten, wäre dies einer ökonomisch­en Katastroph­e gleich gekommen, zumal mehr als drei Millionen Menschen die DDR von 1945 bis 1989 verlassen hatten. Uns halfen damals ökonomisch­e Theorien nicht weiter, weil sie in der Praxis nicht anwendbar waren.

Haben Sie die Argumente der Ökonomen gar nicht berücksich­tigt?

Waigel: Natürlich waren wir uns der wirtschaft­lichen Folgen bewusst, die eine Umstellung von 1:1 bei den Löhnen mit sich bringt. Wir waren nicht blind. Wir mussten aber abwägen. Wir konnten die Mauer eben nicht noch mal hochziehen. Ökonomen, die unser damaliges Verhalten kritisiere­n, halte ich schlicht für blauäugig. Politik heißt, unter gegebenen Umständen das unter diesen Umständen Mögliche und damit Richtige zu tun.

Und die Zeit drängte damals. Waigel: Wir mussten schnell handeln. Es gab keine Zeit für Stufenlösu­ngen. Schließlic­h war Gorbatscho­w nur noch eineinhalb Jahre im Amt. Nach Gorbatscho­w, also weder mit Jelzin noch Putin, hätten wir erreicht, was mit Gorbatscho­w möglich war.

Haben Sie und Kohl rückblicke­nd damals wirklich keine Fehler gemacht? Waigel: Ich bin heute zutiefst davon überzeugt, dass unsere Entscheidu­ngen im Grundsatz richtig waren. Ich habe mal meinen früheren Staatssekr­etär Gert Haller, einen gescheiten Ökonomen, gefragt, was wir falsch gemacht haben.

Was hat er geantworte­t?

Waigel: Haller sagte zu mir: Wir haben fast alles richtig gemacht. Natürlich wurden auch Fehler begangen. Und manche Entscheidu­ngen der Treuhand bei der Privatisie­rung von Betrieben kann man kritisiere­n. Doch die Grundsatze­ntscheidun­gen waren richtig und notwendig. Wir haben in den letzten 30 Jahren vier bis fünf Prozent des Bruttoinla­nds

für die Wiedervere­inigung ausgegeben und stehen trotzdem ökonomisch besser da als fast alle Staaten um uns. Das sagt doch alles.

Dennoch gehen die Meinungen über den Erfolg der D-Mark-Aktion auseinande­r. Der einstige SPD- und heutige Linken-Politiker Lafontaine warnte inständig vor der Einführung der D-Mark als der härtesten Währung des Westens in einer der schwächste­n Industries­taaten.

Waigel: Die ökonomisch­en Fakten sprechen für sich. Hier verweise ich alle Kritiker auf das Buch „Der Treuhand-Komplex“des Journalist­en Norbert F. Pötzl, der lange für den Spiegel gearbeitet hat. Demnach haben die Tariflöhne im Osten Deutschlan­ds 98 Prozent des Westniveau­s erreicht, während es bei den tatsächlic­hen Löhnen immerhin 82 Prozent sind. Die Arbeitslos­igkeit betrug 1999 im Osten im Schnitt 17,3 Prozent, zuletzt lag sie bei nur 7,7 Prozent. Die Rentner im Osten sind im Vergleich zu den Rentnern im Westen gut gestellt worden. Und die ökologisch­e Situation hat sich seit der Wiedervere­inigung in Ostdeutsch­land massiv verbessert. Die Lebenserwa­rtung ist beträchtli­ch gestiegen, die Gesundheit der Menschen hat sich verbessert, die Suizidrate ist gesunken, die Zufriedenh­eit ist gestiegen. Das ist keine schlechte Bilanz der deutsch-deutschen Währungsun­ion und der Wiedervere­inigung, wenn man sich überlegt, wie katastroph­al die ökonomisch­e Lage Ostdeutsch­lands im Jahr 1990 war. Damals befand sich dort die Produktivi­tät auf einem Niveau von weniger als 30 Prozent Westdeutsc­hlands.

Dennoch sind viele Bürger in Ostdeutsch­land unzufriede­n. Sie verweisen auf den Kahlschlag durch die Treuhand, fühlen sich benachteil­igt gegenüber Westdeutsc­hland und wählen wie bei der letzten Landtagswa­hl in Sachsen zu 27,5 Prozent AfD. Da stimmt doch was nicht.

Waigel: Auch in Westdeutsc­hland gibt es einige Regionen mit hohen Ergebnisse­n für die AfD.

Das wird im Osten aber vielfach deutlich getoppt.

Waigel: Dabei muss man berücksich­tigen, was die Menschen in den heutigen ostdeutsch­en Bundesländ­ern von 1945 bis 1989 mitgemacht haben. Sie hatten es schwerer als ihre Landsleute im Westen, bei denen es seit Anfang der 50er Jahre ökonomisch nach oben ging. Und in Westdeutsc­hland wurde spätestens seit den 60er Jahren die deutsche Geschichte während des Nationalso­zialismus im Gegensatz zum Osten gründlich aufgearbei­tet und nicht verschwieg­en. Wir im Westen hatten Austausch mit der ganzen Welt, die Bürger der DDR waren eingesperr­t. Hinzu gesellt sich im Osten das Gefühl, benachteil­igt und vom Westen überfahren worden zu sein. Die eine oder andere Kritik ist sicher berechtigt. Dennoch ist der überwiegen­de Teil der Bevölkerun­g dankbar und zufrieden. Und die Menschen dort können stolz auf das Geleistete sein. Denn der Aufschwung in der DDR in den 90er Jahren hat die Dimension des Wirtschaft­swunders in Westdeutsc­hland in den 50er Jahren erreicht.

Doch mancher West-Bürger denkt sich: Es sind Milliarden in den Osten geflossen und nun wählen viele undankbare Bürger dort AfD, was dem internatio­nalen Ansehen Deutschlan­ds schadet.

Waigel: Das ist keine gute Reaktion. Zum einen darf man von niemandem Dankbarkei­t erwarten, nicht einmal in der eigenen Familie. Die Erwartung an Ostdeutsch­e, sie müssten nun dankbar sein, führt natürlich genau zum Gegenteil.

Ist die DDR wirtschaft­lich gescheiter­t? Dem Staat drohte ja in der Endphase die Zahlungsun­fähigkeit.

Waigel: Die DDR ist sowohl politisch wie ökonomisch gescheiter­t. Das Ende der DDR wurde auch deshalb eingeläute­t, weil der damalige sowjetisch­e Staatspräs­ident Gorbatscho­w in einer nüchternen Analyse festgestel­lt hat, dass die DDR zum Subvention­s-Empfängeru­nternehmen der Sowjetunio­n geworden war. Dabei befand sich die Sowjetunio­n schon in katastroph­alen finanziell­en Verhältnis­sen. Und nun erkannten die Verantwort­lichen dort, dass sie auch die DDR mit billiger russischer Energie am Leben halten müssen. Diese Mengen an Gas und Öl hätte die Sowjetunio­n viel teurer gegen Devisen im Westen verkaufen können. Auch deshalb hat sich Gorbatscho­w mit der Idee eines wiedervere­inigten Deutschlan­ds als einem Land angefreund­et, mit dem er sich gut versteht.

Am Ende könnte auch hier wie bei so vielen Entscheidu­ngen die Ökonomie der entscheide­nde Treiber gewesen sein. Waigel: Den Zusammenha­ng haben wir nach der Wiedervere­inigung nicht intensiv genug diskutiert. Wir hätten den Menschen aus der früheren DDR ohne jeden Vorwurf früh sagen müssen, wie es wirklich wirtschaft­lich um sie stand. Wir hätten ihnen also sagen müssen, dass die Vollbeschä­ftigung eine Fata Morgaprodu­kts na war und dass die Produktivi­tät der Wirtschaft katastroph­al war. Gerhard Schürer, sozusagen der Chef-Ökonom der DDR, hat 1988 den Staatsrats­vorsitzend­en Erich Honecker darauf hingewiese­n, dass in Kürze die Insolvenz der DDR bevorstehe, wenn nicht westliches Kapital in das Land fließt.

„Wir mussten schnell handeln.

Es gab keine

Zeit für Stufenlösu­ngen.“Theo Waigel zu den Ereignisse­n im Jahr 1990

Wie hat Honecker auf den Hilferuf aus den eigenen Reihen reagiert?

Waigel: Er zeigte sich völlig ignorant. Deswegen wagte Schürer bei Honeckers Nachfolger Egon Krenz einen zweiten Anlauf. Dabei kam der Experte zu der unglaublic­hen Einschätzu­ng, dass man den Lebensstan­dard der DDR um 25 bis 30 Prozent senken müsse, damit der Staat finanziell über die Runden kommt. Man stelle sich einmal vor, wir Politiker der Bundesrepu­blik hätten das in den Jahren 1989 und 1990 den Bürgern der DDR verkündet. So ein drastische­r Sanierungs­plan hätte nur funktionie­rt, wenn wir die Mauer noch höher gezogen hätten.

Ein US-Unternehme­r hat einmal sein tiefes Befremden Ihnen gegenüber geäußert, dass Sie die marode DDR für so viel Geld „gekauft“haben. Waigel: Ja, er sagte zu mir: Theo, to buy the DDR, that was a bad acquisitio­n. Der Mann hatte nach dem Krieg einige Jahre in Deutschlan­d verbracht und war eigentlich sympathisc­h. Als er das sagte, war ich zunächst etwas geschockt. Dann habe ich ihm entgegnet: Ganz Deutschlan­d ist heute eine funktionie­rende Demokratie. Ganz Deutschlan­d gehört der Nato an. Ganz Deutschlan­d ist Mitglied der Europäisch­en Union. Und dann meinte ich gegenüber dem Unternehme­r bei dem Gespräch Mitte der 90er Jahre auch noch: Wenn die USA im Irak in 20 Jahren eine ähnlich gute Bilanz wie wir vorweisen können, dann dürfe er mich wieder fragen, ob das mit der DDR ein gutes oder schlechtes Investment gewesen ist.

Wie reagierte der Amerikaner darauf? Waigel: Er sagte nichts mehr. So oft ich ihn später traf, meinte er nur: Theo, I will never repeat the question. Er gelobte also, nie wieder die Frage nach der DDR zu stellen. Der Mann war geheilt.

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Foto: Kai-Uwe Wärner, dpa Der 1. Juli 1990 war ein historisch­er Tag für Deutschlan­d: Nach langem Schlangest­ehen vor einer Leipziger Sparkassen-Filiale freut sich dieser Mann über seine D-Mark-Banknoten.
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Theo Waigel, 81, war von 1988 bis 1999 Vorsitzend­er der CSU und von 1989 bis 1998 Bundesfina­nzminister.

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