Immer schön auf Abstand bleiben
Corona Die Chöre dürfen nach drei Monaten Zwangspause wieder proben. Doch strikte Bedingungen erschweren ihre künstlerische Arbeit erheblich. Welche Werke lassen sich jetzt noch aufführen?
Augsburg Zwei Meter. Weniger Abstand darf es nicht sein, wenn Chorsänger in Bayern jetzt wieder proben dürfen. Denn Singen heißt Ausatmen und in den unvermeidlichen Feuchtigkeitströpfchen, Aerosole genannt, steckt in Corona-Zeiten eine Infektionsgefahr. Trotzdem atmen die Chorleiter auf. „Es war schon ein emotional ergreifender Moment, als meine Domsingknaben am Montag erstmals wieder mehrstimmig zusammen gesungen haben“, sagt der Augsburger Domkapellmeister Stefan Steinemann. Drei Monate lang konnte er nur ihre Einzelstimmen im Onlinemodus üben.
Der Chorverband BayerischSchwaben hatte schon rebelliert und fühlt sich nun „sehr erleichtert“. Er fühlte sich ungerecht behandelt von der Staatsregierung, die den Chören seit Mitte März ein Betätigungsverbot aufgebrummt hatte. Es hieß, Singen sei stark risikobehaftet. „Für uns gab es überhaupt keine Perspektive weder für Proben noch für Konzerte“, beklagt CBS-Präsident Paul Wengert. Vier Mal mussten sie in den Ministerien anklopfen, ehe dann am Freitagabend ein Rahmenkonzept erlassen wurde, woraus der Chorverband flugs am Samstag ein Muster-Hygienekonzept entwickelte und an die 670 Mitgliedschöre aussandte. Mag es auch umständlich sein, will sich Paul Wengert strikt daran halten. „Ich habe ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ich sehr auf die Disziplin aller Sänger baue. Wir tragen eine große Verantwortung.“Jürgen Schwarz, der Geschäftsführer des Chorverbands und
Leiter der Schwäbischen Chorakademie Marktoberdorf, empfiehlt die Corona-App. „Sie gibt uns Sängern nochmals mehr Sicherheit“, sagt er.
Auch jetzt gelten für Chöre noch strenge Auflagen: Der Probenraum muss in kürzeren Intervallen regelmäßig gelüftet werden und die Dauer der Probe ist begrenzt. Für sein Augsburger Vokalensemble hat der Leiter Alfons Brandl festgelegt: Alle zwanzig Minuten gehen die Fenster für zehn Minuten auf und nach drei solcher Einheiten ist Schluss. Der Mund-Nasen-Schutz darf nur zum Singen abgelegt werden. Das Klavier wird vorher und nachher desinfiziert. Geprobt wird jeweils in Zehnergruppen mit Anwesenheitsliste.
„Die Probenarbeit ist eine ganz andere. Sie kann nicht projektbezogen stattfinden. Denn unterbrochen durch die Pausen stellt sich im Chor keine kontinuierliche Konzentration ein. Es dauert jedes Mal, bis die
Sängerinnen und Sänger wieder in ihren Fluss finden“, erklärt Brandl, der an der Musikhochschule Nürnberg das Fach Chorleitung lehrt. Im Blick auf seine Studierenden meint Brandl aber auch: „Abstandhalten ist eine sehr gute Schule für tonsicheres Singen. Du kannst dich auf niemand neben dir verlassen.“Für Laienchöre könne dies freilich zum Problem werden. „Ich muss genau überlegen, wer in den kleinen Gruppen miteinander singen soll.“Sonst geraten schwächere Sänger unweigerlich ins Hintertreffen.
Kantor Udo Knauer in St. Georg, Nördlingen, will es bei der ersten Probe darauf ankommen lassen. Er kann in der großen Stadtkirche vierzig Sänger in fünf Reihen platzieren. „Dann wird sich herausstellen, ob sich die Leute gegenseitig hören.“Knauer weiß auch noch nicht, wie viele Chormitglieder jetzt wegbleiben werden. Die einen scheuen sich aus gesundheitlichen Gründen, anderen ist ihr Anfahrtsweg für eine zeitlich reduzierte Probe zu weit.
Seit Gottesdienste wieder möglich sind, hat der evangelische Kantor mit kleinen Ensembles mit vier, fünf Leuten in unterschiedlicher Besetzung musiziert, mal Popsongs und mal traditionell. Davon gibt es sogar Videos. Behutsam will sich Knauer vortasten. Erst einmal Gottesdienste und kleine Abendmusiken. Dann träumt er von etwas Größerem: „Ich bin noch nicht von der Idee abgekommen, im Herbst den ,Messias‘ aufzuführen“, verrät der Nördlinger. Illusionslos ahnt Udo Knauer allerdings, dass die Abstandsregeln länger gelten werden. Deshalb übt er sie mit dem Kinderchor jetzt spielerisch ein. Zur Probe bringt jedes Kind eine Picknickdecke mit.
Wolfram Seitz, katholischer Kirchenmusiker in Günzburg, vermutet, dass die Corona-Zwangspause sein Heilig-Geist-Ensemble, das auf durchaus hohem musikalischen Niveau singt, zurückgeworfen hat. „Ich gehe davon aus, dass ich zuerst eine Menge Gesangstechnik wieder aufbauen muss.“Dank einer WhatsApp-Gruppe sei immerhin das Sozialleben im Chor weitergegangen. Auch Seitz wird schrittweise vorgehen. Je nachdem, wie sich die Chorproben entwickeln, soll es erst kleinere Konzerte geben und zu Weihnachten vielleicht ein Chorwerk. Von Bachs Weihnachtsoratorium, das 2020 auf dem Plan gestanden wäre, hat er sich schon verabschiedet. Zu aufwendig, zu teuer. Nach geltender Regelung dürften höchstens 100 Karten verkauft werden. Seitz wäre auf Sponsoren angewiesen, aber die könnten aufgrund der Wirtschaftsflaute jetzt wegfallen.
Der Chorverband kämpft derweil dafür, dass auch Chöre („Corona wird ein Loch in die Kasse reißen“) so unkompliziert an staatliche Stütze von pauschal 1000 Euro aus dem Corona-Notprogramm gelangen wie die Sportvereine. „Unerträglich“nennt es Paul Wengert, wenn die Chorvorstände sich erst einer bürokratischen Bedarfsprüfung unterziehen müssten. „Die Chöre verdienen denselben Vertrauensvorschuss wie der Sport.“Unverschuldet hat es ihnen die Passions- und Frühlingskonzerte verhagelt, die sonst nötige Einnahmen versprachen.
Domkapellmeister Steinemann hat das Weihnachtsoratorium noch nicht aufgegeben. „Es gehört zu den Lieblingsstücken der Buben“, weiß er. Auch unter den geltenden Bedingungen ließe sich das Werk einstudieren. Es täte seinen Domsingknaben gut, dass sie ein Ziel haben, sagt Steinemann. Denn bis November wurden schon etliche Auftritte abgesagt, darunter eine Konzertreise nach Belgien. Immerhin dürfen die Buben wieder im Dom singen. Und aufs Neue funktioniert die Weitergabe von den älteren zu den jüngeren Sängern, wie man es anstellt, um perfekt die Töne zu formen. Helle Knabenstimmen sind nämlich ein vergängliches Gut: Alsbald holt sie alle der Stimmbruch.
Diese Angst plagt Carl Philipp Fromherz, Chorleiter am Staatstheater Augsburg, zwar nicht, aber seine professionell ausgebildeten Sängerinnen und Sänger leiden genauso unter den Corona-Beschränkungen. „Ganz langsam haben wir wieder angefangen mit zwei Sängern in gegenüberliegenden Ecken im Raum.“Auf dem „Kunstrasen“des Theaters durften unter freiem Himmel sogar acht Sänger gemeinsam auftreten. „Es war für uns alle ein großes Ereignis, wieder mehrstimmig miteinander zu singen“, erzählt Fromherz. „Wir tun halt so, als wären wir ein kleiner Opernchor. Und alle haben ihren Spaß dabei.“
Mit Planungen für den Herbst ist der Chorleiter vorsichtig. „Wir wissen alle nicht, was kommt. Der Chor hat nun die Aufgabe, so vorbereitet zu sein, dass wir mit jeder Herausforderung zurechtkommen.“Auf dem Spielplan steht im September Glucks Barockoper „Orfeo ed Euridice“. Die ließe sich zur Not auch mit halbem Chor singen. An Wagner, Mahler oder Beethoven ist gar nicht zu denken.
Indes weht Euphorie durch den Chor von Carl Philipp Fromherz: „Alle Kollegen sind unglaublich motiviert und man merkt, wie sehr ihnen das gemeinsame Singen gefehlt hat.“
Alle zwanzig Minuten wird gelüftet